Am 20. Juni traten 5.800 Beschäftigte des Glasherstellers Şişecam für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne in den Streik. Zum Streik hatte die Gewerkschaft Kristal-Is aufgerufen und Kolleginnen und Kollegen aus 10 Standorten der Firma waren dem Aufruf gefolgt. Die Firma produziert neben Fenster- und Autogläsern auch Trinkgläser und andere Küchenutensilien. In Deutschland beliefert Şişecam seit 2010 u.a. den Autohersteller BMW mit Autogläsern.

Am Ende der ersten Streikwoche beschloss die AKP-Regierung den Streik für zwei Monate auszusetzen. Sie begründete ihren Beschluss mit der angeblichen „Gefährdung der allgemeinen Gesundheit und nationalen Sicherheit.“

Das Streikverbot wurde von Seiten der Beschäftigten, Gewerkschaften und demokratischen Organisationen kritisiert. In einer schriftlichen Erklärung bezeichnete der Vorsitzende der Kristal-Is, Bilal Cetintas, das Streikverbot des Kabinetts als „nicht verständlich“: “Was soll das mit der nationalen Gesundheit und Sicherheit zu tun haben, dass Menschen für mehr Löhne und bessere Arbeitsbedingungen kämpfen? Hierbei geht es nur um die Interessen von Kapitalgruppen und es ist eine Heuchelei derjenigen, die von “nationaler Gesundheit” reden und dabei doch in Soma Schuld an dem Mord von 301 Kollegen sind!”

Während die Şişecam-Mitarbeiter die Arbeiter und Bevölkerung zur Solidarität aufriefen, begnügte sich die Türk-Is-Führung mit dem Verweis auf das eingeleitete Gerichtsverfahren gegen die Verbotsverfügung der Regierung. In ihrer schriftlichen Erklärung forderte sie die Regierung auf, die Tariffreiheit und –autonomie einzuhalten. Dagegen führte die Şişecam-Belegschaft an mehreren Standorten Protestaktionen durch. In weiteren Industrieregionen kam es zu spontanen Demonstrationen und Solidaritätsaktionen mit dem Şişecam-Streik.

Kampf gegen Arbeiterfeindlichkeit

Ihsan Caralan

Die Erdogan-Regierung hat den Streik von 5.800 Glasarbeitern für zwei Monate ausgesetzt und ihren Beschluss mit Gefährdung der öffentlichen Gesundheit und nationalen Sicherheit begründet.

Diese „Aussetzung für zwei Monate“ erweckt auf den ersten Blick den Anschein, als würde der Streik in zwei Monaten wieder fortgesetzt. Aber dieser Eindruck täuscht. Eine Fortsetzung des Streiks in zwei Monaten ist so gut wie unmöglich. Deshalb muss man hier von einem Verbot des Streiks durch die Regierung sprechen.

Einiges wurde dadurch verständlich:

1- Die Betriebsführung von Şişecam war über den bevorstehenden Beschluss der Regierung informiert. Deshalb ließ sie es darauf ankommen und zwang die Arbeiter förmlich zum Streik. Die von den Arbeitern geforderte Lohnerhöhung von 200 Lira im Monat hätte die Unternehmensleitung ohne Schwierigkeiten akzeptieren können, weil sie wirtschaftlich glänzend dasteht.
2- Es wurde erneut offensichtlich, dass die AKP-Regierung unter „nationaler Sicherheit“ lediglich die „Interessen der Unternehmer“ versteht. Die mit den Stimmen von Arbeitern und Werktätigen gewählte AKP-Regierung sieht ihre Hauptaufgabe darin, die Interessen von Großkapital zu vertreten.

Der Streik von Şişecam-Arbeitern ist nicht der erste Streik, der verboten wurde.

– Der erste gesetzliche Streik von Glasarbeitern fand im Jahre 1966 statt. Der Streikaufruf von damals einen besonderen Stellenwert in der Arbeiterbewegung der Türkei. Die damalige Regierung unter Süleyman Demirel hatte den Streik verboten.

– Ein Streik von Glasarbeitern im Jahre 1980 war nach dem Militärputsch am 12. September von der Junta verboten worden.

– Am 24. Mai 2001 wurde ein weiterer Streik von Glasarbeitern von der damaligen Koalition unter Bülent Ecevit verboten. Auch damals lautete die Begründung „Gefährdung der nationalen Sicherheit“.

– Im Jahre 2003 beschlossen die Glasarbeiter in einer Urabstimmung in Streik zu treten. Noch bevor der Streik begann, beschloss die AKP-Regierung den Streik zu verbieten. Der Verwaltungsgerichtshof hob die Verbotsverfügung der Regierung auf, die sich über das Gerichtsurteil hinweg- und das Verbot durchsetzte.
– Jetzt ist es wieder die AKP, die einen Streik von Glasarbeitern mit dem Vorwand „Gefährdung der öffentlichen Gesundheit und nationalen Sicherheit“ verbietet.

Wenn es darum geht, Arbeiterkämpfe niederzuschlagen, handeln also alle bürgerlichen Parteien gleich. Ob Konservative oder Sozialdemokraten an der Regierung sind, spielt keine Rolle. Arbeiterrechte werden mit Füssen getreten und Kapitalinteressen durchgesetzt.

Jetzt werden sicherlich die Befürworter der AKP-Regierung nachzuweisen versuchen, wie die Glasproduktion unmittelbar mit öffentlicher Gesundheit und nationaler Sicherheit zusammenhängt. Gewerkschaftskreise dagegen werden versuchen, deren Thesen zu widerlegen und den Rechtsbruch der Regierung nachzuweisen.

Viele werden denken, dass die Haltung von Türk-Is, in der die Glasarbeitergewerkschaft Kristal-Is Mitglied ist, außerordentlich wichtig sein wird. Diese Annahme ist jedoch sehr naiv. Die Linie von Türk-Is zeigt, dass man keine Hoffnungen und Erwartungen in ihre Führung setzen sollte. Vielmehr sollten die Arbeiter ermutigt werden, gemeinsam mit kämpferischen Gewerkschaftern den Kampf aufzunehmen und ihre Stimme gegen den Angriff auf das Streikrecht zu erheben.

Die Glasarbeiter gaben nach der Verbotsverfügung eine Erklärung ab, in der sie zur Solidarität und zum gemeinsamen Kampf aufrufen. Nur so kann man die Regierung dazu bewegen, das Verbot aufzuheben und ihre Angriffe auf Arbeiterrechte einzustellen. Sonst wird ihre arbeiterfeindliche Politik kein Ende finden.

Auszug aus dem Soli-Aufruf von DIDF:

„(…) Mit dem aktuellen Beschluss zeigt die AKP-Regierung offen und direkt, wessen Interessen sie vertritt. Es geht ihr weder um die allgemeine Gesundheit, noch um die nationale Sicherheit, sondern sie beschützt lediglich die Interessen der Unternehmen und des Kapitals. Die AKP ist arbeiterfeindlich und behindert jegliche demokratische Betätigung von Arbeitern und Gewerkschaften.

Wir protestieren vehement gegen das Gesetz 6356 und fordern die sofortige Abschaffung dieses Gesetzes. Das Recht auf Streiks muss überall, auch in der Türkei, als ein Menschenrecht anerkannt und eingeführt werden.

Wir fordern die demokratische Öffentlichkeit in Deutschland auf, sich mit der Kristal-Is zu solidarisieren und sich dafür einzusetzen, dass diese undemokratische Praxis abgeschafft wird.

DIDF Bundesvorstand“

Auszug aus der Erklärung von EMEP:

„(…)Über 70 % der Glasarbeiter erhalten einen Monatslohn, der knapp über dem Mindestlohn liegt. Der Einsatz von Leiharbeit hat in den letzten Jahren die ganze Branche erfasst. Die Şişecam-Leitung möchte die wenigen verbliebenen Errungenschaften der Belegschaft rauben und die ohnehin schweren Arbeitsbedingungen weiter erschweren.

(…) Bei dem Streik geht es nicht nur um die Rechte der Şişecam-Belegschaft, sondern geht die gesamte Arbeiterklasse in der Türkei an. Denn ihr Erfolg wäre eine schwere Niederlage für die AKP-Regierung und das Kapital. Zugleich würde ihr Erfolg einen Schlag gegen Gewerkschaftsführer bedeuten, die gegen die Interessen der Arbeiter und zusammen mit den Unternehmern arbeiten. Deshalb rufen wir die Arbeiter und Werktätigen in der Türkei zur Solidarität mit Şişecam-Arbeitern auf!“