mutlu cosar interview capulcucampMutlu Coşar kommt aus Ankara und ist Mitglied der Partei der Arbeit (EMEP) und seiner Jugendorganisation Emek-Jugend. Er und seine Organisation nahmen ihren Platz an dem Widerstand, der im Gezi-Park angefangen und die ganze Türkei umgefasst hat, teil. Mutlu befindet sich zurzeit auf dem DIDF-Jugend-Camp in Berlin und das haben wir zum Anlass genommen, um mit ihm über den Widerstand in der Türkei zu sprechen.

Neues Leben (NL): Wie muss man die Proteste der vergangenen zwei Monate besonders im Hinblick auf die Jugendlichen in der Türkei bewerten?
Mutlu Coşar (MC): Wir hatten eine intensive und schnelle Zeit mit unterschiedslichsten Protestformen. Zur Zeit befindet sich der Widerstand auf einer passiven Ebene. Hierbei sammeln sich die Menschen in den Parkforen und besprechen dort die Situation. Dieser Widerstand insgesamt zeigte uns in erster Linie, dass die Menschen alles in die eigenen Hände nehmen müssen und die Lösung ihrer Probleme nur in ihren Händen liegt. Sie gingen auf die Barrikaden: In den Schulen, in den Fabriken und auf den Straßen sah die Situation aus der Sicht der Jugendlichen so aus, dass sie ein neues Selbstbewußtsein entwickelte. Seit dem Militärputsch im Jahre 1980 herrscht im Lande eine repressive Politik und diese Politik sollte eine unpolitische, asoziale Jugend schaffen, die lieber vor dem Computer sitzen sollte. Aber genau diese Millionen von Jugendlichen, obgleich organisiert oder nicht organisiert, gingen auf die Straßen.

NL: Die Beteiligung der nicht organisierten Jugendlichen an diesen Protesten und “die Tugendhaftigkeit der Unorganisierten” wird viel gerühmt. Wie steht die Emek Jugend zu dieser Aussage?
MC: Zu diesem Punkt gibt es im Allgemeinen zwei verschiedene Herangehensweisen. Eine Gruppe behauptet, dass die autonomen Organisationen besser, der Bewegung dienlicher und im Allgemeinen repräsentativer seien. Dieser Gedanke entstand vor allem unter den nicht sozialistisch geprägten Gruppen. Dass sich diese Denkrichtung aber in der breiten Masse verbreitet, ist im eigentlichen Sinne kein Lob an den Unorganisierten, sondern ein Vorwurf an die Organisationen, die bisher keine richtige Opposition bilden konnten. Die Emek Jugend versucht in ihrer Praxis und Theorie diese glorifizierte Unorganisiertheit zurückzudrängen. Schließlich definieren wir uns als Emek Jugend dadurch, dass wir alle Jugendlichen repräsentieren, die ein Problem mit dem System haben und unterdrückt werden. Natürlich haben wir auch Defizite. Die meisten Menschen sehen uns nicht anders, als die anderen Organisationen. Viele von diesen handeln sektiererisch und versuchen, nicht die Bewegung, sondern nur sich selber zu stärken. Die Stärke dieses Massenaufstandes lag jedoch gerade an der Organisierung der breiten Massen. Das versuchen wir den Massen klarzumachen.

NL: Den Jugendlichen wurde immer wieder der Gedanke vermittelt, “Der Kapitalismus ist die Endstation. Nichts ändert sich”. Meinst du, dass die Gezi-Bewegung in diesem Zusammenhang einen Umbruch bedeutet?
MC: Ja, wir können genau von so einem Effekt sprechen. Das ist einer der größten Errungenschaften dieser Bewegung bisher. Bevor die Gezi-Proteste anfingen, befanden sich die unpolitischen, sozial schwache Jugendliche in so einer Situation. Es war eine Jugend, die unzufrieden war, aber nicht daran glaubte, dass sich etwas ändert bzw. die Lösungsansätze gefielen ihr nicht. Schließlich ist das Fass übergelaufen. Menschenmassen sind auf die Straßen gegangen. Die Regierung musste einen Schritt zurück. Vielleicht ist das kein Triumph, aber die Massen merkten in diesem Prozess, dass die Regierung sie wahrnehmen und nicht länger über ihre Köpfe hinweg entscheiden konnte. Dadurch verstärkte sich das Selbstvertraunsgefühl der Menschen und sie begriffen, solange sie gemeinsam und stark sind, können sie der anderen Seite mehr Schaden hinzufügen.

NL: Ein Jugendlicher mit einer Fahne der kurdischen Partei BDP, der eine junge Frau mit einer türkischen Fahne in der Hand vor einem brutalen Polizeiangriff wegzieht. Das war eines der bewegenden Bilder des Widerstandes. Wie kann man dieses Bild in die “Kurdenfrage” einbetten?
MC: Der türkische Staat setzte sich mit der kurdischen Bewegung nicht freiwillig an einen Tisch. Der Kampf des kurdischen Volkes zwang die Regierung zu den Verhandlungen. Der Staat musste sich mit der bestehenden Bewegung auseinandersetzen und eine Lösung für das Problem finden. Wir erwarten vom Staat sowieso keinen Schritt nach vorn. Da die Kurden diejenigen sind, die den Staat zu den Verhandlungen zwangen, deswegen sind sie auch die jenigen, die den Staat zu den folgenden Schritten “zwingen” werden. Je stärker die kurdische Bewegung auftritt, desto größer werden die Schritte der Regierung sein. Die Rechte werden nicht einfach hergegeben, sie werden erkämpft. Das passt haargenau zum jetzigen Freiheitskampf des kurdischen Volkes. Das kurdische Volk hat kein Vertrauen in die Regierung. Obwohl man sich im Friedensprozess befindet und die Debatten auf der politischen Ebene weitergeführt werden, schließen sich immer mehr Jugendliche den Freiheitskämpfern in den Bergen an. Dies deutet vor allem auf zwei Punkte hin. Die kurdischen Jugendlichen möchten ihre Organisation stärken und sie vertrauen dem Staat nicht. Die Kurden sind wachsam.

Wir wollen natürlich einen Waffenstillstand, damit kein weiteres Blut vergossen wird, so wie wir alle in Frieden und Demokratie zusammen leben wollen. Seit Jahren arbeiten wir als Emek Jugend auf allen Platformen dahingehend. Besonders während der Gezi-Bewegung auf allen Foren formulierten wir unsere Forderungen nach Gleichberechtigung in der Gesellschaft, Frieden und Freiheit. Die Basis der Gezi-Proteste beruht auf den Wunsch nach Freiheit. Dieser Wunsch half den Massen, sich zum großen Teil mit der kurdischen Bewegung zu versöhnen. In diesem Sinne sahen die Menschen, dass sie keine Feinde sind, sondern einen gemeinsamen Feind haben und gegen ihn auf den Straßen sind. Nachdem die Medien die Protestierenden als “Terroristen” dargestellt hatten, sahen die “Türken” auf der Strasse, dass die gleichen Medien seit 30 Jahren die kurdische Seite als “Terroristen” bezeichneten und somit wurde dieses Bild “vom bösen Kurden” zerbrochen. In der Türkei fordern immer mehr Menschen Frieden. Natürlich gibt es einen nationalistischen Flügel, der die Kurdenfrage nicht gelöst haben möchte, weil durch eine Lösung seine politische Grundlage in Frage gestellt würde. Hierbei muss die kurdische Bewegung dessen bewusst sein, dass sie von dem Verhandlungstisch mit dem Staat nur dann gestärkt aufstehen kann, indem sie heute die Brücken der Brüderlichkeit zwischen dem türkischen und dem kurdischen Volk bekräftigt. Die Aufgabe der Emek Jugend besteht in diesem Zusammenhang darin, dass sie überall, wo sie tätig ist -sei es in den Schulen, an den Universitäten, in den Fabriken oder in den Wohnvierteln- Friedensforderung mit allen Kräften zu unterstützen und die anderen von dieser Forderung zu überzeugen.

NL: Kannst du uns etwas von eurem Sommercamp zwischen dem 16. August – 25. August in der Türkei erzählen?
MC: Das diesjährige Camp ist eine Besonderheit, weil in der Türkei gerade noch von einem großen Volkswiderstand die Rede ist. An manchen Orten ist es aktiver, an manchen Orten läuft es passiv, aber es geht weiter. Es ist eine Zeit, in der alle Jugendlichen sich solidarisieren, sowie gemeinsam die Forderungen nach Freiheit und Brüderlichkeit aufbauen müssen. An dieser Stelle treffen wir uns in Dikili unter dem Motto “Freiheit für Natur, Menschheit und Wissenschaft”. Das ist ein wichtiges Treffen für die Jugendlichen in der Türkei. Durch eine solche Zusammenkunft tauschen sich die türkischen und die kurdischen Jugendlichen aus. Man schafft einen Ort, in dem die Jugend ihre genaue Stellung in dem Widerstand erkennt, die Zusammenhänge besser versteht und nach dem Camp von einer fortgeschrittenen Position aus, sich zu den Protesten begibt. Wir versuchen, wie gesagt, verschiedene Jugendliche zusammenzubringen. Es liegt in unserer Selbstdarstellung, dass wir einen sehr großen Umfang von Jugendlichen ansprechen. Solange wir es schaffen, können wir uns fortbewegen. Wir werden gemeinsam während des Camps und auch in der Arbeit danach sehen, ob und wie wir unsere Aufgabe erfüllten bzw. erfüllen.