Das 20. Jubiläum des Karlsruher Menschenrechtszentrums gibt Anlass nachzudenken über die Flüchtlingsintegration in Deutschland und über die Flüchtlingsabwehr vor den Toren der Festung Europa.

Rund 60 % der 2015 in Deutschland zugewanderten Flüchtlinge werden zumindest auf Zeit im Land bleiben, mit welchem Status auch immer. Alles, was wir an Erfahrungen und Potenzialen zur Integrationsförderung haben, muss aktiviert oder reaktiviert werden, damit aus der Flüchtlingskrise keine Integrationskrise wird.

Im Blick auf diese Integrationsaufgabe fällt den Kommunen eine Schlüsselrolle zu. Das gleiche galt und gilt für die Willkommensbewegung von unten in Gestalt des gewaltigen bürgergesellschaftlichen Engagements unter dem Eindruck der Überforderung staatlicher und kommunaler Versorgungseinrichtungen durch den aktuellen Flüchtlingsandrang.

Diese bundesweite Bewegung stand in einer schon längeren Tradition von ehrenamtlichem Engagement, Hilfe, aber auch Protest und wuchs seit dem Migrationssommer 2015 rasch zu Millionenstärke an. Sie war und ist, wie der Sozialforscher, Publizist und Aktivist Harald Welzer zu Recht betonte, eine „Sternstunde der Demokratie“.

Beobachter aus dem Ausland blickten teils fasziniert, teils erschrocken auf die paradoxe Spannung zwischen dem, was Bundespräsident Gauck das „helle“ und das „dunkle Deutschland“ genannt hat: Brennende Hilfsbereitschaft traf auf brennende Flüchtlingsheime, während die rechtspopulistische „Alternative für Deutschland“ auf Anhieb zweistellige Umfrage- und Wahlergebnisse erreichte.

Ohne die spontan und selbstlos zupackende, gewaltige bürgergesellschaftliche Willkommensbewegung wären die Strukturen für die Erstaufnahme und Betreuung von Flüchtlingen vielerorts zusammengebrochen. Und diese Gefahr ist noch nicht vorbei.

Umfragen meldeten 2016 ein Sinken der flüchtlingsfreundlichen Positionierungen in der Bevölkerung. Die regional und schichtenspezifisch unterschiedlich geprägte Unterströmung von Skepsis, Sorge und Angst begann wieder zu steigen und spülte alte Vorurteile gegenüber sogenannten „Wirtschaftsflüchtlingen“ und „Scheinasylanten“ nach oben.

Die grundsätzliche Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge blieb beim Großteil der Bevölkerung zwar erhalten, aber die Abwehrhaltungen wuchsen. Verschärfend wirkte dabei zuletzt ein Bumerang-Effekt: Es war die immer mehr auf Sicherheitspolitik, Gefahrenabwehr und „Härte“ gegenüber Flüchtlingen setzende „Bewältigung“ der Flüchtlingskrise durch die Drosselung des Zugangs für Flüchtende in die EU in Drachentöter-Manier.

Das bestärkte fremdenfeindliche Abwehrhaltungen und rechtsorientierte Strömungen; denn sie wussten sich diese strategische Wendung von der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik zur Flüchtlingsabwehrpolitik als Erfolg auf ihre Fahnen zu schreiben: Da gleiche galt für die Wende von der nur proklamierten „Bekämpfung der Fluchtursachen“ zur faktischen Bekämpfung von Flüchtlingen weit vor den Grenzen der Festung Europa.

Bei der Flüchtlingsabwehr gibt es eine Art legitimatorischen Schaukeleffekt: Je unsicherer die Bevölkerung wird bzw. je unsicherer sie gemacht wird, desto leichter lassen sich inhumane Abwehrkonzepte legitimieren. Das gilt zum Beispiel für Verträge mit selbst Flucht verursachenden Diktaturen wie in Eritrea und im Sudan – wobei der Diktator des Sudan sogar beim Internationalen Strafgerichtshof wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt ist.

So sehen heute Vertragspartner der EU und damit auch Deutschlands bei der Flüchtlingsabwehr aus. Damit zeigt sich heute die dunkle Kehrseite der „Wir schaffen das“-Medaille. Ihre Botschaft lautet: Wir schaffen es, die Flüchtlinge fernzuhalten.

Dabei bleiben die eigentlichen Ursachen der fluchtgenerierenden Weltkrise außer Acht; denn eine Systemkrise kann man nicht mit Abwehr und Almosen, sondern nur mit kritischen Systemfragen angehen. Das hat auch der aus der nichtmarxistischen lateinamerikanischen Befreiungsbewegung stammende Papst in seiner Enzyklika ‚Laudato Si’ unverblümt angesprochen. Seine Systemkritik hat er andernorts sogar einmal in die mutigen Worte gefasst „Dieses System tötet!“.

Vor diesem Hintergrund geht es, über die konkreten Hilfestellungen für Flüchtlinge im Alltag hinaus, um dreierlei: 1. teilen, 2. retten, 3. widerstehen:
Ad 1.: Wir müssen teilen – spenden ist gut, aber nicht gut genug.
Ad. 2: Wir müssen retten – an und vor den Grenzen der Festung Europa. Hier spielen diverse Bürgerinitiativen mit privaten Rettungsschiffen im Mittelmeer eine wichtige Rolle.
Ad 3: Wir müssen widerstehen – gegen Systeme der strukturellen, institutionellen und strategischen Inhumanität.

Und das hängt unmittelbar mit weiteren Plänen des neuen Abwehrsystems der EU zusammen: Gerettete Flüchtlinge, die mit libyschen Booten in Seenot gerieten, sollen in libysche Lager deportiert werden. Es gibt sie dort schon seit dem Berlusconi/Gaddafi-Abkommen zur Abwehr von in „illegale Zuwanderer“ umbenannten Flüchtlingen. Es waren gehobene Konzentrationslager, in denen Gefangene oft unter unsäglichen Bedingungen buchstäblich vergingen, wenn sie nicht ab und an mit vollgestopften Bussen irgendwo in der Wüste ausgekippt und dort ihrem nicht selten tödlichen Schicksal überlassen wurden.

Grundlage des neuen Abwehr- und Lagerkonzepts werden vertragliche Regelungen zum Beispiel mit einer der libyschen ‚Regierungen’ sein, nämlich mit dem von EU und UN anerkannten ‚Government of National Accord’ (GNA). Die ‚Regierung’ besteht aus einem Präsidenten und einem siebenköpfigen Präsidialrat, der es nicht wagt, die Marinebasis in Tripolis zu verlassen, wo er selber Schutz gefunden hat. Es geht also um Verträge der Europäischen Union mit einem Anerkennung, Geld, Hilfslieferungen und Ausbildungsangebote gefügig gemachten Marionettenregime.

Die schon laufende Ausbildung selbst ist das Training von Sicherheitskräften. Dabei handelt es sich offenbar nicht selten um Sicherheitskräfte, die schon unter Gaddafi einschlägige Erfahrungen gesammelt haben. Sie sind oft verhaltensauffällig aggressiv, so dass sie zunächst ein Anti-Aggressions-Training brauchen.

Der Menschenhändler Gaddafi lässt grüßen. Er war auf furchtbare Weise seiner Zeit voraus und wir treten offenkundig sein Erbe an. Sage später niemand wieder, man habe das alles nicht gewusst. Wir haben es gewusst und wer sich nicht dagegen auflehnt, wird vor der Geschichte und wenn er Christ ist auch vor seinem Gott mitschuldig sein.

Der Schutz vor der Gefährdung von Leib und Leben und ein Leben in Würde sind Menschenrechte. Und die deutsche Verfassung schützt bekanntlich nicht die Würde des Deutschen, sondern die Würde des Menschen, gleich wie er aussieht, woher er kommt und an welchen Gott er glaubt. Deshalb ist es um so wichtiger, Humanität und Demokratie in Europa gegen alle Gefährdungen zu verteidigen.

Prof. Dr. Klaus J. Bade
Festvortrag zum 20-jährigen Jubiläum des Menschenrechtszentrums Karlsruhe
am 10.12.2016, den wir mit freundlicher Genehmigung veröffentlichen.