529975_1_lightbox_551b89720a7bfDie Geiselnahme im Justizpalast in Çağlayan müssen die Rechtsanwälte ausbaden. Besser gesagt wurden die Rechtsanwälte im Anschluss an eine Kampagne, deren Startschuss wieder einmal vom Staatspräsidenten Tayyip Erdoğan gegeben wurde, als Sündenböcke ausgewählt. Jemand, der die Ereignisse nicht näher verfolgt hat, dürfte im Lichte der Kampagne davon ausgehen, dass der Staatsanwalt von Rechtsanwälten ermordet worden wäre.

Die Rechte der Anwälte sind nicht ihre eigenen Rechte. Denn sie vertreten das Recht auf Verteidigung eines jeden. Ihre Rechte und Privilegien betreffen die Inanspruchnahme dieses Rechts auf Verteidigung. Warum dürfen die Anwälte und ihre Taschen nicht durchsucht werden? Der Grund dafür liegt auf der Hand. Es ist davon auszugehen, dass Rechtsanwälte Dokumente oder Beweismittel mit sich führen, die die Sicherheitskräfte oder Staatsanwaltschaft nicht kennen dürfen, weil sie damit ihren Mandanten belasten könnten. Der Rechtsanwalt ist eine der Stützen des Rechtssystems und alle Rechte und Privilegien, die dem Richter und Staatsanwalt als weitere Stützen zustehen, müssen auch ihm zuerkannt werden. Diese Gleichberechtigung ist in seiner Stellung gegenüber dem Staatsanwalt von besonderer Bedeutung. Was passiert, wenn diese Gleichberechtigung nicht existiert? Dann würde seine Gewichtung hinter der des Gerichtsdieners liegen. Das ist es, was frühere Diktaturen und die jetzige AKP-Regierung erreichen wollen. Denn sie sehen das Recht auf Verteidigung der Menschen nicht gern und neigen gerne zu extralegalen Hinrichtungen. Sie erklären die Angeklagten von Anfang an zu Schuldigen. Unter den Diktaturen liegt das Schicksal der Menschen in der Hand der Agenten der Machthaber.

Der Grundsatz, dass Rechtsanwälte und deren Taschen nicht durchsucht werden dürfen, ist ein Recht bzw. ein Privileg, das nach jahrhundertelangem Kampf erreicht worden ist. Dieses Recht darf nicht beseitigt werden, nur weil ein Geiselnehmer mit einer Anwaltsrobe auf dem Arm den Justizpalast betreten hat. Dutzende von Richtern und Staatsanwälten wurden zu “Angehörigen des Parallelstaats” oder zu “Verrätern” erklärt und vor Gericht gestellt. Selbst in diesen Fällen wurde nicht die Forderung nach Änderung der bestehenden Praxis erhoben. Auch bei den Gerichtsverfahren gegen Hunderte Polizisten, denen “Mitgliedschaft des Parallelstaats und somit einer terroristischen Vereinigung” vorgeworfen wird, werden nicht durchsucht, bevor sie den Gerichtssaal betreten. Täglich kommt es zu unzähligen Verkehrsunfällen, bei denen Dutzende von Menschen sterben. Keiner kommt aber auf die Idee, die Verbannung von Kraftwagen aus dem Verkehr zu fordern. Wird das Tragen von Burka verboten, weil bei einem Anschlag der Täter die Tatwaffe darunter versteckt hat? Es hat schon einen solchen Fall gegeben. Bei dem Anschlag auf die Polizeistation in Sultanahmet trug die Selbstmordattentärin eine Burka. Warum ist man damals nicht auf die Idee gekommen, das Tragen der Burka zu verbieten?

Für die Beseitigung eines jeden Freiheitsrechts kann man geeignete Argumente ins Feld führen. Der General der Militärjunta von 1980 war ein Meister darin. Wie der heutige Staatspräsident trat er täglich vor die Fernsehkameras, um zu erläutern, warum ein weiteres Recht beseitigt wurde. Und ein bedeutender Teil der Bevölkerung gab ihm Recht. Jetzt rufen wir allen zu: Wenn ihr nicht wollt, dass euer Recht auf Verteidigung wie zu Zeiten der Militärdiktatur beseitigt wird, müsst ihr euch der momentanen Lynchjustiz gegen die Rechtsanwälte widersetzen. Man greift sie an, weil sie euch vertreten. Sagt den Diktatoren: Stopp!

Kamil Tekin Sürek