serveImage.phpTürkei: Hunderte Tote in Bergwerk.

Es ist der größte Arbeitsunfall in der türkischen Geschichte. Als dieser Text geschrieben wurde, lag die offizielle Zahl der Todesopfer bei 232. Unter den Todesopfern sind 15jährige Arbeiter und »inoffiziell Beschäftigte«, deren Zahl unbekannt ist.

Wir haben es nicht mit einem Grubenunglück zu tun, sondern mit einem Massenmord an Arbeitern wie wir ihn aus dem 18. Jahrhundert kennen.

Man kann viele Aspekte dieser Katastrophe erläutern, aber die erste Frage muß sein: Welcher Kampf ist zu führen, was ist zu tun, damit sich Ähnliches nicht wiederholt?

Die Gewerkschaftskonföderationen DISK (Konföderation Revolutionärer Arbeitergewerkschaften) und KESK (Konföderation der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes) sowie die Berufsverbände von Ingenieuren, Architekten und Ärzten haben zu einem eintägigen Streik aufgerufen. Jugendorganisationen haben sich ihnen angeschlossen und zu Solidaritätsstreiks an Universitäten und Schulen mobilisiert. Nach anfänglichem Zögern hat sich auch Türk-Is, der größte Gewerkschaftsdachverband, zum Ausstand entschlossen. Es ist zu erwarten, daß viele lokale gewerkschaftliche Bündnisse dem folgen werden.

Die Katastrophe hat solche Dimensionen, daß die Türkei auf der Liste der Arbeitsunfälle mit Todesfolge, die von der Internationalen Arbeitsorganisation ILO geführt wird, vom dritten auf den zweiten Platz geklettert ist. Was sind die Gründe dafür? Erstens: Privatisierungen; zweitens: Ausweitung von Flexibilisierung, Werkverträgen und Leiharbeit; drittens: Verstöße gegen Arbeitsschutzbestimmungen; viertens: Profitgier.

Wie apokalyptische Reiter sind diese vier in den meisten Bergwerken und Werften, auf Baustellen, in Häfen, Fabriken und kleineren Betrieben unterwegs. Manchmal treten sie einzeln, zumeist aber gemeinsam auf, und sie haben Gesichter und Namen: Vertreter der Regierung und der bürgerlichen Parteien, die sich für Privatisierung und Leiharbeit einsetzen; Unternehmer, die für Gewinnmaximierung Bestimmungen für Arbeitsschutz und -sicherheit außer Kraft setzen. Aber das Blut der Getöteten klebt auch an den Händen der Gewerkschaftsführer, die die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung und der Bosse unterstützen. Ihre moralische Verantwortung ist am größten.

Bis heute wurde kein einziger Verantwortlicher für die zahlreichen »Arbeitsmorde« in der Türkei vor Gericht gestellt oder verurteilt. Dem muß ein Ende gesetzt werden. Es geht nicht um einige wenige Beauftragte für Arbeitssicherheit, sondern um die Unternehmensführungen, um die staatlichen Behörden, die ihrer Aufsichtspflicht nicht nachkommen, und um die Politiker, die die gesetzlichen Rahmenbedingungen schaffen. Sie müssen gezwungen werden, nicht nur juristisch, sondern auch politisch Rechenschaft abzulegen. Nur so können weitere Morde an Arbeitern verhindert werden.

Gastkommentar von Ihsan Çaralan
in der Tageszeitung  jungeWelt
Der Autor ist Herausgeber der in Istanbul erscheinenden
türkischen Tageszeitung Evrensel

Quelle: www.jungewelt.de