WahlurneIm September 2013 gingen 44 Millionen Menschen in Deutschland zu den Wahllokalen, um ihre Stimme abzugeben. Gleichzeitig gab es jedoch auch mehrere Millionen Bürger in Deutschland, die nicht einmal empört darüber sein konnten, dass der Gang zur Wahlurne nicht das gewünschte Resultat hervorbrachte oder sich über einen möglichen Wahlsieg freuen konnten. Das hat den ganz einfachen Grund, dass sie nicht wählen gehen durften, weil sie die deutsche Staatsangehörigkeit nicht besitzen. Das, obwohl sie, wie alle anderen Menschen dieses Landes auch, von den staatlichen Pflichten und Gesetzen betroffen und Bürger dieser Gesellschaft und dieses Landes sind. Ihnen fehlt lediglich ein Fetzen Ausweisdokument mit einem Bundesadler drauf.

Diese Situation soll sich in den nächsten Wochen für die 1,5 Millionen türkischen Staatsbürger nun ändern. Das bedeutet aber nicht, dass sie am politischen Geschehen hier in Deutschland, also ihrem Lebensmittelpunkt, teilhaben sollen. Denn in den eingerichteten Wahllokalen soll der türkische Präsident gewählt werden, nicht das deutsche Parlament.

Somit werden auch viele türkeistämmige Jugendliche zum ersten mal einen sogenannten Repräsentanten des Volkes wählen dürfen. Welche Bedeutung das für einen Großteil dieser Jugendlichen hat, sollte klar sein. Neben dem Status des Erstwählers kommt noch die Tatsache hinzu, dass man all die Jahre vom politischen Leben in Deutschland ausgeschlossen wurde. Eine weitaus stärkere Bindung wird somit zum sogenannten Herkunftsland aufgebaut, das einige unter ihnen nur wenige Wochen im Leben besucht haben. Das ist keinesfalls förderlich für eine gesunde Integration in Deutschland, wenn das Interesse dieser jungen Menschen für das Leben in diesem Land sinkt. Vor allem, wenn man sich diskriminert fühlt oder die sozialen Aufstiegschancen in dieser Gesellschaft stark von der sozialen und ethnischen Herkunft abhängt.

Mit den Wahlurnen kommen auch die Spannungen der Türkei, die politischen Diskrepanzen und eine Spaltung der Türkeistämmigen untereinander aber auch zwischen Türkeistämmigen und Menschen ohne Migrationshintergrund nach Deutschland. Natürlich darf das nicht bedeuten, dass man jeglichen Kontakt mit dem sogenannten Herkunftsland abbrechen und seiner Vergangenheit den Rücken kehren soll! Wichtig ist eher, dass man die Probleme im eigenen Land, in diesem Fall Deutschland, anpackt und nach Lösungen hier vor Ort sucht, statt den Blick in eine weit ertfernte Region der Welt zu richten, mit dem man sich (lediglich) emotional verbunden fühlt. Dies geht sicherlich über mehrere Wege und doch ist das Wahlrecht eines der grundlegenden demokratischen Instrumente, welches hart erkämpft wurde und in den Augen der Gesellschaft die Macht des Volkes widerspiegelt. Warum sollte man diesen Menschen also dieses Recht verweigern?

Das neu „gewonnene“ Wahlrecht für die Türkei mag auf den ersten Blick verlockend erscheinen, schneidet aber den Türkeistämmigen und der hiesigen Gesellschaft ins eigene Fleisch. Insbesondere in Zeiten wie diesen, in denen Regierung und Politik alles in Eigen- und Kapitalinteresse gegen die Interessen der Werktätigen durchsetzt, ist das Richten der Blicke in Richtung der Türkei lediglich ein Rückschritt in der ohnehin schlechten Integrationspolitik dieses Landes.

Sinan Cokdegerli