Aus Wut über Korruption, Vetternwirtschaft und Verelendung gehen seit dem 14. Juni jeden Abend Tausende Bulgaren auf die Straße, um Orescharskis Rücktritt zu fordern. Das Land steckt in einer tiefen politischen Krise, seit die konservative Vorgängerregierung im Februar nach monatelangen Protesten das Handtuch warf. Die vorgezogene Parlamentswahl im Mai brachte eine politische Pattsituation hervor.
Auch mehr als sechs Wochen nach ihrem Beginn scheint die Protestwelle nicht zuenden. Jeden Abend versammeln sich Tausende Demonstranten im Zentrum Sofias, um gegen die allgegenwärtige Korruption und Klanwirtschaft in dem südosteuropäischen Land zu protestieren. Die zentrale Triebfeder dieses Protestes besteht in der Forderung nach dem sofortigen Rücktritt des Kabinetts von Premier Plamen Orescharski. Der formell parteilose Ministerpräsident steht einer Koalitionsregierung zwischen der revisionistischen “sowjettreuen” Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) und der Partei der türkischen Minderheit (DPS) vor, die aber nur die Hälfte der 240 Sitze im bulgarischen Parlament inne hat.
Die Proteste entzündeten sich Mitte Juni an der Ernennung des umtriebigen Medienunternehmers Deljan Peewski zum Chef des mächtigen bulgarischen Geheimdienstes DANS. Irena Krastewa, die Mutter des 32 jährigen Peewski, gebietet über ein Medienimperium, das mehrere Zeitungen und einen Fernsehsender umfaßt. Dieser war in seiner jungen Karriere 2005 schon mal stellvertretender Minister für Katastrophenhilfe, doch musste dieses Amt nach nur zwei Jahren wegen Korruptionsvorwürfen aufgeben.
Höhepunkt der Proteste war die Belagerung des Parlaments durch Hunderte von Demonstranten. Fast neun Stunden lang wurde das Parlament blockiert. Im Gebäude saßen mehr als 100 Menschen, darunter drei Minister und Dutzende Abgeordnete, fest. Massive Polizeikräfte lösten die Proteste auf und befreiten die Eingeschlossenen. Bei Zusammenstößen wurden nach Angaben des Staatsradios 20 Menschen verletzt. Das Parlament sagte nach den Krawallen die nächste Sitzung ab.
Bulgarien erlebt bereits die zweite Protestwelle in diesem Jahr. Im Februar entzündete sich der Unmut an den hohen Strompreisen. Tausende demonstrierten damals gegen die sozialen Missstände im Land. Die Regierung des konservativen Ministerpräsidenten Bojko Borissow trat zurück.
Präsident Plewneliew setzte auf Abstand zu jeder Partei und auf Dialog mit den Demonstranten. Doch die Neuwahl im Mai brachte keine arbeitsfähige Regierung, denn die stimmenstärkste GERB-Partei von Borissow konnte sie nicht bilden, weil ihr die Koalitionspartner fehlten. Die zweitplatzierten Sozialisten gingen daraufhin ein waghalsiges Bündnis mit der Türkenpartei ein – toleriert von der ultranationalen und europafeindlichen rechten Ataca-Partei. Die folgenden Fehlentscheidungen dieser Regierung, schon in ihrer Personalpolitik, brachten die Menschen wieder auf die Straße.
Die politischen Frontstellungen in Bulgarien sind maßgeblich durch die Auseinandersetzungen einflußreicher Wirtschaftsgruppen geprägt, die politische oder wirtschaftliche Machtpositionen ausnutzen, um weitere Vorteile zu erringen und unliebsame Konkurrenten auszuschalten. Insofern verwundert es nicht, daß die neue, angeblich “sozialistische” Regierung sich schon bei Amtsantritt mit einer ähnlichen Protestwelle konfrontiert sieht, wie das rechte Kabinett von Premier Bojko Borissow, der zurücktreten musste.
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