erdogan demokrasi paketiDas „Reformpaket zur Demokratisierung“ der AKP-Regierung, das wochenlang unter größter Geheimhaltung geschnürt worden war, hat sich als ein „Strohfeuer“ erwiesen. Dabei war es im Vorfeld als „ein Bündel größter Überraschungen“, „eine nie da gewesene Demokratisierungsoffensive“ und „Reformen vom Rang einer stummen Revolution“ propagiert worden. Es wurde auf einer Pressekonferenz vorgestellt, die wie eine Kundgebung inszeniert wurde. Eingeladen waren nur Hauptstadtredakteure von großen TV-Anstalten und Tageszeitungen, die man bei dieser Inszenierung erniedrigte und als Claquere einsetzte. Als der Ministerpräsident die Institutionen aufzählte, die bei der Vorbereitung Beiträge geleistet hatten, nannte er das Staatssekretariat für Öffentliche Sicherheit als Koordinierungsstelle. Das allein zeigte schon, mit welchem Geist das Paket geschnürt wurde. Es wurde deutlich, dass es der AKP um die „Sicherheit“ und darum ging, den Aufbau einer „konservativen Gesellschaft in einer demokratisierten Türkei“ sicherzustellen.

HINTER DEN FRÜHEREN „REFORMEN“ GEBLIEBEN
Anscheinend ist der Ministerpräsident selbst von seinem Reformpaket nicht überzeugt. Deshalb unterstrich er, dass es sich bei dem Paket nicht um ein abschließendes Werk handele, sondern um „Reformen, die das Land in der aktuellen Etappe des Reformprozesses benötigt“. Wenn die Zeit gekommen sei, würden neue Reformpakete folgen. Um seine Glaubwürdigkeit zu verstärken, unterstrich er dieses „Argument“ mehrmals.

NEUREGELUNGSBEDARF IN DREI WICHTIGEN BEREICHEN
Natürlich können immer wieder Neuregelungen umgesetzt werden, um die Demokratie weiterzuentwickeln. Ausschlaggebend dafür sind die „gesellschaftlichen Erfordernisse“. Wir sehen allerdings, dass das als eine Demokratisierungsoffensive präsentierte Reformpaket im Widerspruch zu den gesellschaftlichen Erfordernissen steht. Dies wiederum widerlegt die These des Ministerpräsidenten, „im Bedarfsfalle neue Reformpakete schnüren“ zu wollen.

Denn das Paket hat nicht im Geringsten etwas mit dem gesellschaftlichen Entwicklungsstand in der Türkei und mit den Erfordernissen zu tun, die für die Entwicklung der Demokratisierung umgesetzt werden müssten. Wer den Kampf um die Demokratisierung der Türkei im letzten Vierteljahrhundert verfolgt hat, wird die Ansicht teilen, dass es ernsthafter Neuregelungen in drei wichtigen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens bedarf, wenn man dasselbige weiterentwickeln möchte:

1- Neuregelungen, mit den die Schulbildung in kurdischer Muttersprache, die Freilassung der inhaftierten KCK-Mitglieder und deren Teilnahme an der legalen Politik ermöglicht werden. Das sind einige der Schritte, die für eine Lösung der kurdischen Frage erforderlich sind.

2- Der Weg zum wahren Laizismus muss geebnet werden. Für die Trennung von Staat und Kirche ist es erforderlich, die Glaubensfreiheit der Aleviten sowie ihre Versammlungshäuser als Gebetsstätten anzuerkennen.

3- Erforderlich ist die Schaffung der rechtlichen Voraussetzungen für eine Demokratie. Dafür müssen die rechtlichen Hindernisse vor demokratischen Rechten und Freiheiten beseitigt werden. Dazu gehören Einschränkungen bei der Pressefreiheit, bei dem Recht auf Informationsfreiheit bei der Versammlungsfreiheit genauso wie die hohen Hürden bei Wahlen. Das Terrorismusbekämpfungsgesetz und die Staatsanwaltschaften mit Sonderbefugnissen sind abzuschaffen. Auch die gesetzlichen Einschränkungen bei den Rechten von Minderheiten, Arbeitern, Gewerkschaften etc. müssen beseitigt werden. Ferner sind individuell-kollektive Freiheiten erweitert werden.

Denn dass sind die eigentlichen Probleme, die die Weiterentwicklung des Landes hemmen und gesellschaftliche Konflikte heraufbeschwören. Deshalb kann eine Demokratisierung ohne Neuregelungen in diesen drei Bereichen nicht zum Ziel führen, wie man es gerade sieht.

FUTTER FÜR „KRITISCHE UNTERSTÜTZER“
Bekanntlich gibt es in der Türkei Kreise, die die bisherigen „Reformen“ mit dem Spruch „Wir sagen ja dazu, obwohl sie nicht ausreichend sind!“ unterstützt haben. Diese kritischen Unterstützer haben mit dem aktuellen Paket neue Nahrung erhalten. Das Paket sieht sicherlich auch Reformen wie die Zulassung der drei Buchstaben „X, Q und W“, die Umbenennung von Dörfern und ein Mitspracherecht der Bewohner bei entsprechenden Entscheidungen, die Zulassung des Beitritts von öffentlichen Bediensteten in die politischen Parteien etc. vor, die wir gutheißen können. Bei diesen Neuregelungen handelt es sich jedoch teilweise um Entscheidungen, die durch einen Ministerpräsidentenerlass umgesetzt werden könnten. Andere wiederum sind Rechte, die bereits seit langem bestehen, weil sie de facto durchgesetzt wurden. Bei diesen Rechten hat das gesetzliche Verbot keine praktische Bedeutung wie es auch der Ministerpräsident zugegeben hat.

Das sind fast die einzigen positiven Aspekte eines Reformpakets, das für sich in Anspruch nimmt, eine „Demokratisierungsoffensive“ zu sein. Es ist nicht akzeptabel, wenn die Regierung die Bevölkerung im heutigen Stadium ihres Demokratiekampfes mit solchen „Reförmchen“ hinzuhalten versucht. Es ist offensichtlich, dass sie versucht, mit angeblichen Reformversprechen im Wahlrecht oder bei der Zulassung des Kopftuchs im öffentlichen Dienst etc. ihren „kritischen Unterstützern“ den Rücken stärken und ihnen neue Propagandamaterialien zur Verfügung stellen möchte.

DER ERFOLG BEI DEN NÄCHSTEN WAHLEN SOLL SICHERGESTELLT WERDEN
Wie aus den Erklärungen des Ministerpräsidenten hervorgeht, ist das vordergründige Ziel des „Reformpakets“ die Sicherstellung des eigenen Erfolgs bei den nächsten Wahlen. Er versucht die Bevölkerung in „Gegner und Befürworter der Demokratisierung“ zu spalten. Auch der Versuch, Lücken in die Front der Gegner zu schlagen, ist offensichtlich. Dabei möchte er die Änderungen im Wahlrecht als eine weitere Falle einbauen und stützt sich auf die Tatsache, dass fast alle Kreise sich für eine Änderung des Wahlrechts aussprechen. In der Tat sprechen sich fast alle dafür aus, weil sie es für undemokratisch und vorteilhaft für größere Parteien und (deshalb ungerecht) halten. Im Reformpaket wird als Alternative ein neues Wahlsystem vorgeschlagen, das auf „Wahlkreisen“ aufbaut. Dieses als Alternative vorgeschlagene System würde jedoch die beklagte Ungerechtigkeit vergrößern und der Partei mit dem höchsten Stimmenanteil nützen. Um den Vorschlag schmackhaft zu machen, stellt er den kleineren Parteien eine Beteiligung an Wahlkostenerstattung in Aussicht. Nach diesem Bestechungsversuch sollen Parteien mit mehr als drei Prozent Stimmenanteil ihre Wahlkosten erstattet bekommen. Dieser Vorschlag wird von den meisten nicht akzeptiert werden, weil er sie vor die „Wahl zwischen Pest und Cholera“ stellt. Und er zeigt, dass die Regierung alles daransetzen möchte, um die bestehende 10-Prozent-Hürde weiter aufrecht zu erhalten.

KEINE REFORMEN FÜR ALEVITEN, KURDEN UND WERKTÄTIGE VORGESEHEN
Interessanterweise ging der Ministerpräsident in seiner überlangen Rede weder auf Kurden und Aleviten, noch auf deren Probleme und Forderungen ein. Anstatt den Begriff „Kurdisch“ zu benutzen, entschied er sich für die Umschreibung „Sprachen außer Türkisch“. Auch das Wort „Aleviten“ nahm er nicht in den Mund, zog stattdessen die Umschreibung „Menschen aller Glaubensrichtungen“ vor. So reduzierte er bestehende Probleme mit gewaltigem Ausmaß auf „Probleme einiger Gemeinden und ethnischer Gruppen“. Auch im Vorfeld getätigte Spekulationen darüber, dass die Gebetsstätten von Aleviten über den Umweg von Stiftungen einen offiziellen Status bekommen würden, erwiesen sich als leere Worthülsen. Die Einzige Regelung, die die Aleviten betrifft, ist die Entscheidung, die Universität in Nevşehir nach Hacı Bektaş-ı Veli umzubenennen. Dies wird als Gegenleistung für die Benennung der dritten Brücke über dem Bosporus nach dem Aleviten-Killer Yavuz Sultan Selim interpretiert.

Ganz besonders fällt auf, dass das Recht der Arbeiter und Beamten auf freie Organisation, die Abschaffung der Einschränkungen bei ihrem gewerkschaftlichen Kampf gänzlich ausgeklammert wurden. Die einzige Änderung ist das Recht der Beamten auf Mitgliedschaft in politischen Parteien.

KEIN BELEG DER DEMOKRATISIERUNG, SONDERN DES KONSERVATISMUS
Das als „stumme Revolution“ lancierte Reformpaket outete sich als „Strohfeuer“. Denn die vorgesehenen Reformen bleiben hinter den früheren zurück. Die geplanten Neuregelungen werden das Land nicht voranbringen, sondern konservativer gestalten. Die Zulassung des Kopftuchs im öffentlichen Dienst, die Eröffnung von Gebetsstätten an Schulen, die Delegierung des Rechts auf Bildung in eigener Muttersprache an Privatschulen sind Belege dieser Intention, die hinter den Plänen von historischem Rang steckt. Eine historische Gelegenheit bieten sie auch, um das Demokratieverständnis der AKP erneut deutlich zu zeigen.

Ihsan Caralan