von Dirim Su Derventli

„Zeit ist Geld!“ – schrieb Benjamin Franklin, einer der sog. Gründerväter der USA. Vor über 270 Jahren wies er in seinem Ratgeber für junge Kaufleute darauf hin, in kürzester Zeit viel Gewinn zu machen. Heute kennt jeder diesen Spruch. Ob er damals wohl erahnt hätte, wie sich dieses Dogma in unsere Leben festsetzen wird?

Lebenszeit

In Deutschland wird man durchschnittlich 80 Jahre alt, Tendenz steigend. Seit dem Kriegsende und dem wirtschaftlichen Aufstieg konnte die Bundesrepublik einen neuen Standard an Lebensqualität über die Jahre hinweg sichern, daher erreicht man dieses hohe Alter. Zum Vergleich: In der Türkei werden die Menschen durchschnittlich 75 Jahre alt. Was erwartet uns nun in acht Lebensjahrzehnten? Obwohl wir ganz unterschiedliche Lebenswege gehen, die sich durch unsere sozialen Hintergründe begründen lassen, können wir zumindest diese Parallele bei nahezu allen Menschen festhalten: Nach unserer Bildung erwartet uns der Beruf, ob über den Weg der Ausbildung, des Studiums oder direkt nach der Schule. Früher oder später arbeiten wir alle. Im Übergang von Bildung in Beruf lernen wir „unsere Zeit effizient zu nutzen“, um möglichst viel möglichst schnell zu erledigen. Ein Beispiel dafür ist unter anderem die Schulreform „G8“, welche Gymnasiasten schneller zum Abschluss und somit schneller ins Berufsleben bringen sollte. Auch Hausaufgaben sind in dem Zusammenhang zu betrachten. Schüler sollen sich auch nach dem Unterricht noch weiter Lerninhalte aneignen, um in der nächsten Stunde abliefern zu können. Und da wir in unserem Schulsystem mit Noten und Bewertungen zu tun haben, entwickelt sich bereits bei den Kleinsten ein enormer Leistungsdruck. Sogar Grundschüler verbringen ihre Freizeit mit Nachhilfe, weil uns von klein auf beigebracht wird, dass das Leben ein Wettlauf ist. Die Kaufmännische Krankenkasse Hannover (KKH) veröffentliche 2018 eine Umfrage, in der sechs bis achtzehnjährige Schüler angaben, am meisten aufgrund von Leistungsdruck und Konkurrenz gestresst zu sein. Alles was wir machen, muss sich lohnen und somit wird Effizienz das Nonplusultra unseres gesellschaftlichen Daseins.

Zeit gespart, Geld zentriert 

Nach unserem Bildungsweg sind wir im Beruf darauf eingestellt Profit zu machen. Die Abhetze auf der Arbeit wird uns elegant als „Qualitätsmanagement“ verkauft und wir lernen Abläufe so zu optimieren, dass eine Person möglichst viel selbstständig erarbeiten kann. In der Industrie wurde beispielsweise aus den Berufen Maschinenschlosser, Maschinenzusammensetzer, Teilzurichter und Metallbearbeiter der Einzelberuf der sogenannten „Fachkraft für Metalltechnik – Montagetechnik“. Vier Berufe wurden in einen gepackt, sodass eine einzelne Arbeitskraft etliche Schritte in der Produktion alleine ausführen kann. Der Lohn wurde natürlich nicht vervierfacht, aber die Ersparnisse für den Arbeitgeber schon. Denn, wenn man vier Fachkräfte für Metalltechnik – Montagetechnik einstellt, statt 16 Arbeiter der einzelnen Berufsgruppen, können vier Leute genauso viel erarbeiten und die Unternehmensleitung noch mehr daran verdienen. Zeit wird zu Geld, genau wie Benjamin Franklin es beschrieben hatte.

Genau wie das Zusammenführen von Berufen, gehört unter anderem Leiharbeit auch zu den Themen der Industrie. Dieses komplexe Beschäftigungsverhältnis, was wohl eines der katastrophalsten in Deutschland ist, hat in einem Aspekt das Arbeitswesen hierzulande wesentlich geprägt: Das Einsetzten von sogenannten Springern. Wie der Name es auch schon verrät, sind Springer dazu da für andere Mitarbeiter einzuspringen, die kurzfristig ausfallen. Dieses System ist vor allem in der Leiharbeit etabliert, wo sich Unternehmen von anderen „Verleihfirmen“ Arbeiter für einen unbestimmten Zeitraum leihen. Der Arbeitgeber reserviert sich über den Tag hinweg eine Arbeitskraft, die zu Hause darauf wartet in den Betrieb bestellt zu werden. Kommt der Anruf, muss alles stehen und liegen gelassen werden und innerhalb eines bestimmten Zeitfensters muss man erscheinen und wortwörtlich einspringen. Manche Arbeitgeber halten sich mehrere Springer parat und wer dann zuerst kommt, der mahlt auch zuerst. Entlohnt wird, nachdem tatsächlich gearbeitet worden ist. Das nennt man dann moderne Arbeitseffizienz, der Herzschlag unserer Leistungsgesellschaft.
Machen wir einen Ausflug in die Arbeitszeiterfassung am Beispiel des Dienstleistungssektors. Stempelkarten bzw. elektronisch erfasste Arbeitszeiten sind in vielen Bereichen bereits etabliert. Es gibt für manche Dienstleister allerdings auch ein anderes System der Zeiterfassung, nämlich die sogenannten Plus- und Minusstunden. Wird von einem Beschäftigten die vertraglich geregelte Arbeitszeit nicht eingehalten und es entstehen sogenannte Minusstunden, so kann der Arbeitgeber diese vom Monatslohn abziehen. Betroffene sind zum Beispiel bei sozialen Dienstleistern beschäftigt, die automatisch ohne Eigenverschuldung Minusstunden bekommen, wenn zum Beispiel ihr Klient erkrankt. Die Kompensation erfolgt durch unbezahlte Überstunden. Das Resultat ist der Zwang zur Mehr-Arbeit. Die ver.di schreibt in ihrem Fact Sheet zu Arbeitszeitrealitäten, das in allen Bereichen der Dienstleistung Arbeitshetze herrscht. Bei Krankenhausbeschäftigen sind über 90% von Arbeitshetzte betroffen. Insbesondere in der Pflege wird auf Effizienz und Zeit gespielt, sodass selbst aus einem Altenpflegeheim oder einem Krankenhaus schnell eine Gesundheitsfabrik wird. Betti Rödig, Krankenpflegerin aus München, schrieb in einem Artikel im Rahmen des Pflegenotstandes für Junge Stimme (Ausgabe Nr.79), dass Krankenhäuser eigentlich weniger Patienten aufnehmen müssten, um sie verantwortungsvoll versorgen zu können. Aber Patienten hätten schon lange den Status als Kunden, und weniger Kunden bedeuten auch weniger Einnahmen oder auch weitere Einsparungen. Deswegen erleben wir besonders hier unbezahlte Überstunden, wenig Lohn und gleichzeitig bedenkliche Behandlungs- und Pflegestandards. Ver.di berichtet, dass nur ein Viertel der Beschäftigten davon ausgeht, bis zum Renteneintritt so weiterarbeiten zu können.

Keine Zeit gut zu leben

Was fällt beim Lesen dieses Artikels auf? Es geht in unserer Gesellschaft immer darum, Zeit gut zu nutzen, um Leistungen zu erbringen. Es geht nicht darum Zeit dafür zu nutzen, um gut zu leben. Die Uhr macht immer weiter tick tack und wer kein Taktgefühl hat, der wird aussortiert. Der Fehler in unserem entsetzlich effizienten System beginnt schon dabei, Erfolg an der Einheit Zeit zu messen. Dabei brauchen wir Zeit, um ein gutes Leben zu führen.

Wir brauchen Arbeitsmodelle, die im vollen Umfang Rücksicht auf die Beschäftigten nehmen. Das Beste in uns kommt nicht durch Leistungsdruck zum Vorschein, sondern wenn wir keine Ellenbogen ausfahren müssen, um uns über Wasser zu halten. Es kommt zum Vorschein, wenn wir mit unseren Kollegen, Mitschülern und Kommilitonen gemeinsam den Tag bestreiten und nicht gegen sie.