Ein Gespräch mit Mesut Bayraktar über Kunst, Bildungsaufstieg und Sprache in der Klassengesellschaft
Mesut Bayraktar, geb. 12.01.1990 in Wuppertal hat Jura in Düsseldorf, Lausanne und Köln studiert. Derzeit befindet er sich im Zweitstudium Philosophie in Stuttgart. Er ist Hauptredakteur von NOUS.-Zeitschrift für Neue Literatur. Neben Erzählungen und Theaterstücken schreibt er Essays für Zeitungen und Zeitschriften. Sein Erstlingswerk, DIE BELAGERTEN (ein Theaterstück), erschien im März`18. Anfang Juli’18 erschien sein Debütroman BRIEFE AUS ISTANBUL.
Anfang Juni hast du an der Konferenz für Gegenkultur von der Melodie & Rhythmus in Berlin teilgenommen. Du bist Autor, Zeitschriftenredakteur, Dramatiker und Essayist. Wie definierst du Kultur im Verhältnis zu einer Gegenkultur?
Klassischerweise unterscheidet man ja Hochkultur und Volkskultur und so weiter. Das Konzept von Gegenkultur ergibt sich aus einer anderen Perspektive. Genau wie die Bürgerlichen im Arbeitsprozess die Produktionsmittel an sich reißen und die Arbeitenden sich verdingen müssen, um sich erhalten und sich zu einem gewissem Grad auch individuell entfalten zu können, eignen die Bürgerlichen sich auf anderer Ebene kulturelle Ausdrucksmittel an und geben diese vor. Da ich zunächst Schriftsteller bin, denke ich da vor allem an Sprache. Auf diese Weise betrachtet, ist der Mechanismus, der sich auf der ökonomischen Ebene vollzieht, ebenso auf kultureller Ebene und in unserem klassischen Kulturverständnis zu beobachten, das, vorgeschrieben durch die Bürgerlichen, große Verblendungsregime einrichtet.
Unter Gegenkultur verstehe ich deshalb eine Kultur der Konfrontation mit diesen Mechanismen. Es bedeutet nicht, dass man gegen Kultur ist oder das Kultur schlecht ist und man eine Art Antikultur pflegen sollte, wie es die Dadaisten getan haben, indem sie Kunstwerke destruierten. Gegenkultur bedeutet für mich, dass man in dieser Auseinandersetzung um Ausdruck als Getretener, als Besiegter, als Unterdrückter seine Ausdrucksmittel wieder aneignet und entgegen herrschender Ideen, eigene Ideen zum Ausdruck bringt und etabliert.
Konfrontation und das Hinterfragen von gegebenen Ideen..
Genau, und das zum Ausdruck bringen, wo die Kultur der Bürgerlichen schweigt.
Du schreibst vermutlich deshalb in deinen Texten und Werken über die Gewalt an der Arbeiterklasse, die der Klassengegensatz hervorbringt. Hast du diese Form der Kunst gewählt, weil das nur mit Worten geht? Und wie bist du zum Schreiben gekommen?
Um ehrlich zu sein, war das keine bewusste Wahl, es war so etwas wie ein Hineinschlittern. Zu bildender Kunst wurde mir nie der Weg geebnet. Die darstellende Kunst hingegen, vor allem die Sprache, war für mich das Nächstliegende, da du es überall mit ihr zu tun hast. Der Sprache kannst du dich nicht entziehen. Das Schreiben war für mich so etwas wie ein Bewältigungsakt von Repressionen, die ich immer erfahren, aber nie verstanden hatte. Ich suchte Worte für etwas, das da war, worüber aber mehrheitlich geschwiegen wurde und bis heute geschwiegen wird.
So funktioniert auch die Gewalt an der Arbeiterklasse, wie du sie angesprochen hast. Wir sprechen ja nicht nur von aktiver physischer Gewalt, sondern auch von passiver struktureller Gewalt, die überall ihre Fratzen zeigt und tief in unserer Gesellschaft verankert ist. Ich bemühe mich dem Stummen eine Stimme zu geben, es zu benennen. Denn erst wenn etwas einen Namen hat, können wir uns damit auseinandersetzen. Deswegen auch die Sprache. Nach einigen Versuchen, vor allem auch nach einigem Scheitern, habe ich trotzdem weiter gemacht und mich irgendwann auch getraut, mit der Sprache an die Öffentlichkeit zu gehen. Großen Einfluss auf mich hatte etwa Franz Kafka. Er begleitet mich bis heute. Ich denke, die Kraft seiner Werke, stumme Gewalt zu entlarven, wird von vielen Linken unterschätzt.
Sicherlich können auch andere Kunstformen dem Stummen eine Stimme geben, denken wir an Picassos Gemälde vom spanischen Bürgerkrieg, an Skulpturen, an Musik, ja auch an Filme, wie die von Ken Loach. Die machen das nur anders, als wenn man schreibt.
Du sagst selber du bist durch Glück zu deiner jetzigen Person als Akademiker und Autor gekommen. Kannst du das kurz erklären?
Ich sage mal so. Ich bin in einem Haushalt groß geworden, in dem Bildung nicht großgeschrieben wurde, weil sie sich bei uns nie vorgestellt hatte. Meine Eltern sagten zwar schon “Junge geh so lange zur Schule wie möglich, damit du nicht so ein hartes Leben hast wie wir”, aber dieser Spruch ist so alt wie die Menschheit und irgendwann, spätestens nach dem Jurastudium, merkte ich, dass da nicht viel Wahrheit drinsteckt. Meine beiden Brüder arbeiteten in derselben Firma, in der auch mein Vater seit Jahrzehnten bis heute arbeitet, und eigentlich war es immer ganz selbstverständlich, dass ich auch irgendwann dort anfange. Mein Abi habe ich zufällig gemacht, weil eine damalige Freundin mir gesagt hat, ich solle mich doch auch bitte nach der Realschule an der Gesamtschule bewerben. Ich habs gemacht und wurde angenommen, obwohl ich nicht mal wusste, was ich da und mit dem Abi machen sollte. Mein Vater hat mir nach dem Abi trotzdem einen Einstellungstest arrangiert für das Unternehmen, in dem er und meine beiden Brüder arbeiteten, aber als ich dann dort war, wurde mir klar, dass ich nicht dorthin wollte. Ich kannte das Leben, das mich dann erwartet und ich hatte anderes kennengelernt. Ich habe dann absichtlich Fehler beim Test gemacht, um meinen Eltern offiziell zu beweisen, dass ich nicht dorthin gehöre. Danach hatte ich die Freiheit etwas anders zu machen. Lange habe ich das als etwas positives bewertet, diese Freiheit. Später ist mir klar geworden, dass die Tatsache, nur mit Glück dorthin gekommen zu sein, wo ich war oder bin, bedeutete, dass die andere Entwicklung “normal” ist, also Struktur hat. Das es von Glück und Zufall abhängt, welches Leben man führt, welche Bildung man genießt und welche Arbeit man wählt, das ist wohl eher eine Schande, ein Armutszeugnis unserer gesellschaftlichen Struktur, weil sie beweist, wie unfrei man eigentlich ist. Warum muss man Glück haben für ein glückliches Leben? Wie viele haben dahingegen Unglück? Warum muss das Leben von Zufällen abhängen, in deren Rücken die Klassengewalt ihre Notwendigkeit durchsetzt? Und wieder wird darüber geschwiegen, denn unser Wertesystem vermittelt, es hänge von Leistung und Intelligenz und sonst was ab, wohin uns das Leben führt. Heute verurteile ich das.
Der Soziologe Aladin El-Mafalaani untersuchte in einer Studie extreme Fälle von Bildungsaufsteiger*innen aus benachteiligten Milieus und stellte auch heraus, dass der Bildungsaufstieg in allen Fällen mit einem Zufall zusammenfiel. Die Untersuchung zeigte außerdem, dass der Aufstieg weniger herausfordernd wegen stetiger Fleiß- und Talentanforderungen war, sondern weil die Betroffenen vielschichtige Trennungserfahrungen (Trennung von Orten, von Personen aus dem Herkunftsmilieu, Praktiken, Symbolen usw.) machen, was dazu führt, dass es zu einer Distanz bis hin zur Entfremdung von der eigenen Vergangenheit und dem Herkunftsmilieu kommt. Aufsteiger*innen aus Migrantenfamilien erleben diese gleich auf zweifache Weise, weil es nicht nur zu einer Entfremdung zum Bildungsmilieu, sondern zusätzlich zur ethnisch kulturellen Herkunft kommt. Kannst du das bestätigen?
Ich könnte eine verdammte Vorlesung über dieses Thema halten. Aber kurz gesagt: wenn du aus einem sozialen Milieu kommst, in dem kein kulturelles, soziales und ökonomisches Kapital, auch symbolisches und vor allem kein strategisches Kapital (im Sinne von sozialen Netzwerken) gegeben ist, dann ist natürlich Bildung der einzige Weg, der dir eine Perspektive eröffnet und den man anschließend „sozialen Aufstieg“ nennt. Aber auch da bestimmten meinen „Aufstieg“ Zufallsbegegnungen mit Schülern aus anderen sozialen Milieus oder Personen, wie eine Kunstlehrerin auf der Gesamtschule, die mir viele neue Einblicke eröffnet hat. Denn solange du nur in der Enge deines eigenen Milieus lebst, merkst du gar nicht, dass du unterdrückt wirst. Für dich ist alles ganz normal, als würde jeder dasselbe Leben führen wie du. Und das, was sich nicht gut anfühlt, das, was sich als Leid ausdrückt und Schmerz, das wird wegradiert mit traditionellen Werten, die man klassischer Weise von der Religion geliefert bekommt. Aber wenn du dieses Milieu verlässt, dann stellst du überhaupt erst einmal fest, dass andere gefüllte Bücherregale zu Hause haben, während das bei dir und niemanden, den du bisher kanntest, der Fall war. Plötzlich kommt dieses Warum. Schon Hegel sagte ja, alles Denken beginnt mit der Entzweiung, mit dem Widerspruch. Erst wenn du aus deinem Umfeld herausgetreten bist, ein anderes siehst und kennenlernst, bist du überhaupt im Stande, dein eigenes von außen anzuschauen und von innen zu befragen. So kam ich immer mehr ins Grübeln und suchte Antworten, die instinktiv politischer Art waren, obwohl Politik zuhause oder in meinem Viertel auch keine große Rolle spielte. Dann kam das Marx-Studium, das war entscheidend, weil er mir das erste Mal Begriffe lieferte, die mir die Mechanismen meines Lebens erklärten und gleichsam auch Handlungsperspektiven eröffneten. Er enthüllte dann das Warum und es zeigte sich, dass ein sozialer Widerspruch mich, meine Familie, meinen Viertel und meine Klasse traktierte.
Es gab aber auch eine sehr einsame Zeit, mit etwa 23 oder so, denn ich hatte mich entfernt von meinem Herkunftsmilieu, ich kam aber auch in bürgerlichen nie ganz an. Wenn ich viel gelesen hatte, war ich immer noch das Arbeiterkind, das Aschenputtel oder sonst was nicht kannte oder Der-Die-Das-Fehler machte, und wenn ich viel über Goethe wusste, war ich immer noch der Türke. Eine Verlagslektorin hat mir sogar mal gesagt, dass meine Sprache „einzigartig“ und so weiter sei. Man merke, dass ich kein „Muttersprachler“ bin. Oder ein Kommilitone sagte mir mal, dass er erstaunt darüber ist, dass ich die deutsche Sprache besser beherrschen würde als er, obwohl er Deutscher ist. Beides und vieles mehr empfinde ich bis heute als Diskriminierung und wenn man überlegt, wie viele meinesgleichen, ohne Goethe gelesen zu haben, solchen Beleidigungen und Sprüchen ausgesetzt sind, ergreift mich ein Grauen, das in Wut umschlägt. Weder die Lektorin noch der Kommilitone waren Rassisten, aber das Echo des strukturellen Rassismus tönte aus ihnen.
Apropos Ausdrucksmöglichkeit. Die Klassengesellschaft birgt einen inneren Widerspruch, der zu Ausbeutung und Gewalt an der Arbeiterklasse führt. Charakteristisch für unsere marktliberale Gesellschaft ist die unsichtbare Herrschaft oder wie du sagst die passive Gewalt. Diese möchtest du in deinen Werken sichtbar machen. Reicht das? Oder was gibt es noch zu tun, diese Verhältnisse zu überwinden?
Ich denke, dass die Literatur einen kleinen aber wichtigen Funken leistet, indem sie die Ausweglosigkeit des Bestehenden in das Bestehen von Auswegen überführt, Auswege sichtbar und erfahrbar macht, trotz alledem. Ich glaube nicht, dass die Literatur allein im Stande ist, Verhältnisse zu überwinden, ich glaube auch nicht, dass die Kunst dazu im Stande ist. Die Literatur kann aber leisten, dass durch die reale Darstellung, durch die poetische Durchdringung der Verhältnisse die Starre, in der man lebt, ins Wanken, ins Tanzen, kurz: in Bewegung kommt und dabei den Menschen, vor allem den Unterdrückten zeigt, dass es so etwas wie Klasse gibt. Nicht im ideologischen Sinn, sondern im Sinne eines faktischen Ausdrucks, im Sinne von Klassenbildern, in denen man sich wiederfindet. So trägt sie dazu bei, dass man dadurch endlich lernt, dass es nicht so etwas wie DIE Klasse gibt, sondern das jeder einzelne, der geschlagen, herabgesetzt und disqualifiziert, der ausgegrenzt wird, dass jeder dieser Einzelnen selbst die Klasse ist, dass man als Individuum permanent auf der Straße die Klasse mit sich trägt, wie die Jeans oder die Paar Schuhe. Ich glaube, wenn man das zu sehen gelernt hat und das Prinzip der Solidarität, sowie es schon immer in der Arbeiterbewegung lokal wie international hochgehalten wurde, entfaltet, dann wird man noch nicht die bestehenden Verhältnisse überwinden, aber sich auf einem guten Weg dahin befinden.
In deinem Interview mit dem »Schattenblick« sagst du, dass wir und die Generation unserer Eltern die Klasse der Besiegten sind. Das hat mit meinem Gefühl gleich resoniert, wenn man die Energielosigkeit und Ernüchterung gegenüber zu leistendem Widerstand bedenkt. Vielleicht ist das Erkennen, das Sichtbarmachen auch des Besiegstseins ja zu diesem Zeitpunkt das Wichtigste. Mal schaun, vielleicht kommt die Bewegung danach.
Genau, wenn man erkennt, dass man besiegt wurde, kann man auch sagen wovon. Und ich glaube das fehlt heutzutage den meisten auch unter den Linken. Stattdessen wird mit unklaren Phrasen versucht, die eigene Schwäche zu verdecken. Im Allgemeinen bin ich aber gar nicht pessimistisch. Ich glaube, dass die aktuelle Phase unglaubliche Chancen birgt für eine linke Bewegung. Ich bin auch der Meinung, dass die Veränderung schon begonnen hat, spätestens seit 2008 mit den Lehman Brothers oder 2013 in Europa. Wir sind mitten drin in einer Zeit, in der unglaublich viele Dinge ins Wanken geraten und sich verändern. Die Frage ist: Wer verändert sie für wen womit?
Erstveröffentlichung in gekürzter Version in „NeuesLeben/YeniHayat“ am 2.07.2019.
Kommentare von Dilan Baran