von Kamil Tybel
Buchbesprechung zum Gedichtband „Mein Name ist Ausländer | Benim Adım Yabancı“ von SemraErtan (Edition Assemblage, Dezember 2020)
Deutschland, Anfang der achtziger Jahre: Das Land steckt in einer Wirtschaftskrise. Der Ölpreis ist explodiert. Die Absatzmärkte brechen ein. Die Produktion wird heruntergefahren. Die Zahl derArbeitslosen steigt, bei gleichzeitigem Wohnungsmangel. Die Konkurrenz unter der arbeitenden Bevölkerung nimmt zu. Wo die Wirtschaft fällt, da bäumt sich die hohle Brust des Rassismus. Von den vielen Frauen und Männern, die den wachsenden Anfeindungen, Beleidigungen, Drohungen und Erniedrigungen dieser Jahre ausgesetzt sind, gibt es eine, für die die Zustände unerträglich wurden. Ihr Name ist Semra Ertan. Im Mai 1982 betritt sie nach einem Hungerstreik die Simon-von-Utrecht-Straß in Hamburg. Aus Protest gegen die zunehmende Ausländerfeindlichkeit übergießt sie ihren Körper mit Benzin und zündet sich bei lebendigem Leib an. 2 Tage später – an ihrem 25sten Geburtstag – stirbt sie an den Folgen der Verbrennungen. Semra war vierzehn, als sie im Zuge des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens in dieses Land kam. Sie wollte auf ein Gymnasium gehen, ohne Zweifel hätte sie das Zeug dazu gehabt, aber wie vielen anderen war auch ihr dieser Weg versperrt geblieben. Sie absolvierte die Realschule, machte eineAusbildung als Bauzeichnerin und übersetzte unentgeltlich für Nichtdeutschsprachige bei Behördengängen. Semra war eine Arbeiterin, eine politische Aktivistin, aber vor allem war sie eins: Sie war Schriftstellerin. Ihr Nachlass umfasst 350 Gedichte und einige politische Satiren. Letztes Jahr erschien ihr erster eigenständiger Gedichtband mit einer Auswahl ihrer Lyrik. Er trägt den Titel: „MeinName ist Ausländer.“ Die Gedichte, die darin enthalten sind, erzählen die Geschichte einer sensiblen, jungen Frau. Sie erzählen von ihrer Wut, ihrer Einsamkeit, von ihrem Glauben an eine bessere Zukunft, von ihren Zweifeln, von verwehrter Liebe und ihrer kompromisslosen Forderung nach einer solidarischen Gesellschaft. Sie stürzte sich nicht kopflos in den Tod, wie ein Auszug aus ihren letzten Worten, die sie vor ihrer Tat an den NDR telefonisch gerichtet hatte, zeigen: „Ich möchte, dass Ausländer nicht nur das Recht haben, wie Menschen zu leben, sondern auch das Recht haben, wie Menschen behandelt zuwerden. Das ist alles. Ich will, dass die Menschen sich lieben und akzeptieren. Und ich will, dass sie über meinen Tod nachdenken.“Beinahe 40 Jahre sind seitdem vergangen. Die Welt befindet sich erneut in einer Wirtschaftskrise. Der Schraubstock der Konkurrenz wird enger. Spätestens in Hanau sah man das braune Blut desFaschismus deutlich aus dem Boden treten. Aber die Krise produziert nicht nur den braunen Mob,sondern auch sein Gegenteil. Wäre Semra heute noch am Leben, sie wäre Teil der antifaschistischen Bewegung. Sie würde nicht klein beigeben, bis der Mensch dem Menschen ein Helfer ist. Semras Körper mag verloren sein, aber ihr Geist bleibt unverwüstlich.
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