Wiesbaden: Der NSU Untersuchungsausschuss tagt am Montag, den 27.11.2017. Als Zeugen ist auch die Familie Yozgat geladen, deren Sohn von der Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) ermordet wurde. Dogus Birdal war vor Ort und hat uns das Geschehen geschildert.

Der NSU-Untersuchungsausschuss schließt am Montag, den 27.11.2017 die Zeugenaufnahme mit dem letzten Zeugen: Ismail Yozgat. Sein damals 21jähriger Sohn Halit Yozgat wurde am 6. April 2006 in Kassel von rechtsextremen Terroristen des NSU im Internetcafé der Familie Yozgat ermordet. Er zählt als das jüngste Opfer der NSU-Mordserie. Die Eltern Halits betreten den Ausschussraum „301 P“ mit einem Bild ihres Sohnes, welches sie für den Ausschuss sichtbar vor ihnen aufhängen. Nachdem alle Formalitäten von dem Vorsitzenden des Ausschusses Hartmut Honka geklärt wurden, äußert Ismail Yozgat seinen einzigen Wunsch: Die Holländische Straße, in der Halit geboren und ermordet wurde, in „Halitstraße“ umzubenennen.

„Wohin soll ich mich denn noch wenden?“

„Herr Temme war da, als mein Sohn ermordet wurde. Wir akzeptieren die Ortsbegehung nicht, weil sie so vorgenommen wurde, wie Herr Temme es wollte! Wir beantragen eine Ortsbegehung an der ich teilnehmen möchte, damit alle Lügen aufgedeckt werden“, fährt Ismail Yozgat fort.

Andreas Temme, ein Mitarbeiter des Landesamts für Verfassungsschutz Hessen (LfV), befand sich zur Tatzeit im Internetcafé der Yozgats. Er gab an, den Erschossenen Halit Yozgat nicht hinter den Tresen gesehen zu haben und verließ das Internetcafé unmittelbar nach der grausamen Tat. Auch als Zeuge meldete er sich nicht bei der Polizei. Der Vorsitzende des Ausschusses antwortet Ismail Yozgat und gibt zu verstehen, dass seine Anliegen nicht in der Hand des Ausschusses lägen. „Ich habe meine Anliegen schon dem Bundesverfassungsgericht geäußert und kriege keine Antwort, das Gericht in München weist mich auch ab und jetzt weisen sie mich ab, wohin soll ich denn noch gehen, was soll ich denn noch machen?“, entgegnet Ismail Yozgat.

Der Vorsitzende gibt daraufhin an, dass die Benennung der Straße im Ermessen der Stadt Kassel läge und die Frage der Tatortsbegehung Sache der Strafermittlungsbehörde sei.

Das Leid eines Vaters

Hochemotionale Szenen ereignen sich, nachdem der Ausschuss Ismail Yozgat darum bittet, den Tathergang zu schildern. Ismail Yozgat begibt sich in die Mitte des Raumes und rekonstruiert mithilfe von Stühlen den Tatort. „Ich habe noch nie in meinem Leben eine Schusswunde gesehen. Seine Augen waren blau. Ich schreie Halit! Halit! Mein Sohn, was machst du, was ist passiert? Doch er gibt mir keine Antwort“. Er kniet auf dem Boden und zeigt, wie er sein sterbenden Sohn in den Armen hält. Vielen Zuschauern kommen die Tränen. Auf der einen Seite das Leid eines Vaters, dessen 21jähriger Sohn in seinen eigenen Armen stirbt, auf der anderen Seite die Kraft und die Entschlossenheit eines Menschen, der mit allem was ihm noch verbleibt seine Forderung nach Aufklärung geltend macht.

„Temme war an dem Mord beteiligt“

„Jetzt erzähle ich Ihnen von Temme.“, sagt Ismail Yozgat. „Temme sitzt hier und will die 50 Cent hinlegen, die er schuldet. Und er sucht nach Halit. Doch wie kann er hier unter dem Tisch Halit nicht sehen? Wie kann er mit einer Größe von 1.90 Halit nicht sehen? Wie kann es sein, dass er die Flecken nicht sieht? Jahrelang kam er für 2 Stunden fast jeden Tag. Jeden Tag hat er 2 Kaffee getrunken. Ich kannte ihn sehr gut. Warum blieb er an dem Tag nur 15 Minuten? Und dass er sich erst 2 Wochen nach der Tat meldete. Ich verstehe nicht, wer versteckt denn hier was? Was versucht man zu verstecken? Am Ende komme ich zu dieser Feststellung: Entweder hat Temme die Mörder gesehen oder er hat sie geführt oder er selber hat die Tat begangen oder geplant. Ich finde keine anderen Antworten als diese.“

Der Vorsitzende bedankt sich für die Schilderungen und betont, dass auch sie nicht wissen, welche der Aussagen Temmes sie für glaubwürdig halten sollen. „Wir sind leider kein Strafverfolgungsorgan. Unsere Kernaufgabe ist die Ermittlungen zu hinterfragen“, betont der Vorsitzende anschließend.

Frau Yozgat ergänzt später zu Temme: „Wir standen alle an unterschiedlichen Zeiten hinter der Theke. Mein Sohn, Ich und mein Mann. Und wir alle kannten ihn und sahen ihn öfter. Es ist also so gut wie sicher, dass er fast täglich da war. Und wenn er ging, ließ er noch die Seiten offen. Und da ich nicht wusste, wie man die Seiten schließt, weil da furchtbare Fotos waren, rief ich meinen Sohn an und er fragte ob Temme wieder einmal da war. Alles was an einem Frauenkörper zu sehen ist, war auf den Bildern zu sehen.“

„Die Polizei hat meine Psyche zerstört“

Zu der Frage, wie sie von der Polizei behandelt wurden, antwortete Ismail Yozgat: „Ein junger Mensch ist gestorben. Jeder kann einen Fehler gemacht haben. Sie haben mir gesagt, wenn ich aussage, kann das hilfreich sein. Natürlich wollte ich helfen, aber dann hat man mich neun bis zehn Stunden verhört. Ich habe das gerne gemacht, da habe ich keine Beschwerden.“ „Aber ich als Mutter habe Beschwerden.“, räumt Ayse Yozgat ein. „Niemand hat mir gesagt was passiert ist. Ich habe es erst in der Türkei erfahren, als es darum ging, meinen Sohn zu bestatten. Niemand hat mir erzählt, dass er ermordet wurde. Ich habe ihn bis zu seinem 21. Lebensjahr großgezogen. Er war mein einziger Sohn. Auch wenn ich 10 Söhne hätte, er war mein ein und alles. Und zu hören, dass mein Sohn Drogen genommen hätte, dass er Mafiosi gewesen wäre. Für eine Mutter ist das unerträglich. Ich muss sagen, dass sie meine Psyche zerstört haben. Ich habe mich 5 Jahre Zuhause eingesperrt, bin nicht einmal einkaufen gegangen. Ich hatte Angst davor, dass die Menschen mir Vorwürfe machen würden.“

Enttäuschung über Volker Bouffier

Ismail Yozgat versuchte nach dem Mord an seinem Sohn auch den hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU) zu kontaktieren. „Ich wollte genau das, was ich hier zur Sprache gebracht habe, diese Ausweglosigkeit, ihm gegenüber zum Ausdruck bringen. Aber er hat abgelehnt. Ich habe mich so gefühlt wie jemand, der vom Stuhl fällt und nicht aus eigener Kraft aufstehen kann.“ , betont Yozgat weiter vor dem Ausschuss.

Stigmatisierung und Observation statt Hilfe

Auf die Frage des Grünen-Obmann Jürgen Frömmrich, warum die Polizei nicht in Richtung Rechtsextremismus ermittelte, obwohl Familie Yozgat sich mehrmals dafür eingesetzt hatte, sagte Ayse Yozgat, dass sie „Woche für Woche“ gesagt hätten, dass es sich um „Ausländerfeindlichkeit“ handle. Sie wisse jedoch nicht, ob die Polizei ihr „wirklich zugehört“ hätte. Stattdessen wurde die Familie über mehrere Jahre observiert, abgehört und verfolgt.

„Nach zwei Jahren haben wir erfahren, dass wir abgehört werden, nachdem wir die Polizei danach gefragt haben. Wenn mein Mann nachhause kam, ging ich mit ihm raus, weil ich alleine Angst hatte. Mir viel auf, dass uns ständig ein Auto verfolgte. Das hat uns sehr beunruhigt. Wir sind nach Österreich und sie haben uns verfolgt. Wir sind nach Holland und sie haben uns verfolgt. Wir sind in die Türkei gegangen und sie kamen uns hinterher. Das ganze ging von 2006 bis 2011. Ob wir weiterhin abgehört werden wissen wir nicht. Aber oft habe ich das Gefühl, dass wir von jemandem verfolgt werden.“, erklärt Frau Yozgat.

„Wir wollten zeigen, dass wir eine Stimme haben“

Als Linken-Obmann Hermann Schaus nach dem Zweck der Demonstration fragte, die die Familie Yozgat in Kassel mit organisiert hatte, antwortete Ismail Yozgat voller Entschlossenheit:

„Mein Sohn wurde ermordet. Mein einziger Gedanke war, dass niemand anderes dasselbe erleiden muss. Das war der einzige Sinn den wir verfolgten.“ Frau Yozgat räumt ein: „Bei den Opfern zuvor wurden ja die Väter umgebracht. Und die Kinder waren die Hinterbliebenen. Aber wir waren keine Kinder, wir wussten, wir können unsere Stimme erheben, wir wollten der ganzen Welt zeigen, dass wir eine Stimme haben, damit niemand mehr sterben muss. Unabhängig vom Glauben oder von der Herkunft. Es geht um den Menschen. Solange unsere Gesundheit das mitträgt, werden wir dafür einstehen und unsere Stimme erheben.

„Halitplatz ist nicht was wir wollten“

Von der FDP-Fraktion, die ihr Beileid aussprach, aber dennoch sichtlich nicht berührt war von dem Auftreten der Familie Yozgat, kam der Einwand, dass schon der Halitplatz nach ihrem Sohn benannt wurde und ob dies denn nicht eine ausreichende Genugtuung für die Familie sei. Ihrer Einschätzung nach würde die Kasseler Regierung die Holländische Straße nicht umbenennen.

„Mein Sohn ist in dieser Straße geboren und ermordet worden. Wir wollten von Anfang an die Straße umbenannt haben nach seinem Tod . Ihr habt uns aber nur das gegeben, was ihr wolltet. Danke für den Halitplatz, aber das was wir wollen haben wir nicht bekommen, nur das was ihr uns gegeben habt. Vor Gericht hat der Anwalt von Tschäpe gesagt: ‚Was wollt ihr noch? Wir haben euch 860.000 Euro gegeben!‘ Ich habe mich gemeldet und gesagt, dass die Familie Yozgat nicht einen Cent vom deutschen Staat angenommen hat, uns ging es nur darum, dass die Holländische Straße in Halitstraße umbenannt wird.“, antwortete Ismail Yozgat.

Die Frage die sich nun stellt ist, wieso es zu viel verlangt ist, einer Familie, deren 21jähriger Sohn rechtsextremen Terroristen zum Opfer viel, diesen einen Wunsch zu erfüllen. Oder ist es eher zu viel verlangt, dass eine so stark befahrene Straße den Namen eines Menschen mit Migrationshintergrund trägt? Vielleicht ist es auch die unangenehme Wahrheit, dass der Rechtsextremismus und rechtes Gedankengut in der Mitte der Gesellschaft existieren, die die Kasseler Regierung nicht verkraften kann. Wie kann es denn sein, dass in einem Land, in dem Straßen nach Kolonialverbrechern und Ex-Nazis benannt werden, kein Raum für eine Halitstraße ist? Muss man sich dann noch wundern, warum rechtsextremes Gedankengut in der Gesellschaft existiert? Eins ist klar: Die Forderung der Familie Yozgat muss unterstützt werden. Die Umbenennung der Holländischen Straße in Halitstraße ist ein Symbol, das diese Gesellschaft braucht, um rechtem Gedankengut entgegenzutreten. Es ist ein Schritt dafür, das das Zusammenleben in Vielfalt auch auf den Straßen Deutschlands sichtbar wird.

Jedoch ist das nicht die einzige Forderung, die geltend gemacht werden muss. Der gesamte NSU-Komplex, mit allen Hintermänner, Verfassungsschützern, Mittätern und Beihilfe leistenden muss aufgeklärt werden. Denn es ist klar, dass nicht nur drei irre Neonazis hinter dem ganzen Komplex stehen. Die Finger von Politikern, der rechtsextremen Szene und des Staates stecken hinter diesen Morden. Und das Mindeste was man für die Hinterbliebenen tun kann, ist Aufklärung.