kumpel1Bei einem Grubenunglück wurden gestern in der Westtürkei über 200 Bergleute getötet. Nach jetzigem Stand befinden sich noch über 200 Arbeiter in der Mine in der 250 Kilometer südöstlich von Istanbul gelegenen Stadt Soma. Die Überlebenschancen der eingeschlossenen Bergarbeiter sind verschwindend gering. Nach Informationen des türkischen Energieministers ist das Unglück auf einen Kurzschluss in einem Umspannwerk zurückzuführen. Der Brand in den Stollen habe man noch nicht unter Kontrolle bringen können. Es habe erst vor zwei Monaten Kontrolluntersuchungen gegeben, bei denen keine Verstöße gegen Sicherheitsstandards in dem betroffenen Betrieb festgestellt worden seien. Die Regierung rief eine dreitägige Staatstrauer aus.

Dagegen wurde nach Medienberichten im vergangenen Oktober ein Antrag der Oppositionsparteien zur Gründung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses mit den Stimmen der Regierungspartei AKP abgelehnt. Der Ausschuss hätte in dem betroffenen Betrieb eventuelle Verletzungen von Arbeitsschutzbestimmungen untersuchen sollen.

Türkei: Spitzenreiter bei Arbeitsunfällen

In der Türkei kommt es jährlich zu rund 700.000 Arbeitsunfällen. Knapp jeder 40. Beschäftigte ist jährlich an einem Arbeitsunfall beteiligt. In der 12jährigen Regierungszeit der AKP verloren ca. 14.000 Arbeiter bei Arbeitsunfällen ihr Leben. Auch in der internationalen Statistik mischt die Türkei ganz oben mit. Auf der Liste der tödlichen Arbeitsunfälle in Europa hat sie den Spitzenplatz. Die Unfallrate dort ist sieben Mal höher als der EU-Durchschnitt. Weltweit nimmt das Land Platz 3 der ILO-Liste mit 82 Ländern ein.

Der Bergbau ist im Landesdurchschnitt die gefährlichste Branche. In den letzten 12 Jahren kam es in Kohlebergwerken zu über 70.000 Arbeitsunfällen – das entspricht einer täglichen Rate von 20 Unfällen. Der internationale Vergleich zeigt, dass die Zahl der getöteten Arbeiter pro abgebaute Mio. Tonne Kohle in der Türkei 360 Mal höher als in den USA ist. (Siehe Tabelle 1)

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Tabelle 1: Tödliche Arbeitsunfälle pro abgebaute Mio. Tonnen Kohle
Jahr Türkei China USA
2000 7,1 4,08 0,03
2001 7,22 4,11 0,02
2002 6,04 3,98 0,04
2003 9,23 4,06 0,04
2004 5,14 3,03 0,03
2005 5,51 2,72 0,01
2006 2,59 2 0,06
2007 8,02 1,5 0,04
2008 7,22 1,27 0,02
Quelle: China State Administration of Work Safety, U.S. Bureua of Labor Statistics, The United Nations Statistics Division (UNSD) Energy Statistics und Sozialversicherungsanstalt der Türkei

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Diese Zahlen zeigen, auf wessen Kosten der vielfach gelobte wirtschaftliche Erfolg der AKP-Regierung geht. Ihre neoliberale Wirtschaftspolitik mit Privatisierungen, Flexibilisierung, Deregulierung, Outsourcing legte den Grundstein für die hohen Wirtschaftwachstumszahlen der letzten Jahre. Ermöglicht wurde diese Entwicklung nicht nur durch die Ausweitung der Ausbeutung, sondern auch durch den rigorosen Abbau von Arbeiter- und Gewerkschaftsrechten unter der AKP-Regierung.

In den vergangenen Jahren hatten Ministerpräsident Erdogan und seine Minister ähnliche Unglücke als „Schicksalsschlag“ bezeichnet und die Opfer zu „Märtyrern“ erklärt.

Privatisierung führt zu Arbeitsunfällen

Der Unfall in Soma machte jedoch erneut deutlich, dass die wahre Ursache nicht bei einem höheren Wesen, sondern in der Politik zu suchen ist. Der betroffene Betrieb in Soma war bis zu seiner Privatisierung im Jahr 2005 in öffentlicher Hand. Damals wurden die Abbaurechte an einen Privatunternehmer übertragen. Der heutige Konzern-Chef Alp Gürkan protzte in einem Zeitungsinterview vor zwei Jahren mit folgenden Zahlen: „Der Staatsbetrieb produzierte eine Tonne Steinkohle für 130 US-Dollar und schrieb deshalb rote Zahlen. Wir haben die Produktionskosten pro Tonne auf 23,80 US-Dollar reduziert und erwirtschaften Gewinne.“ Auf die Frage, wie dieses „Wunder“ verwirklicht werden konnte, antwortete er: „Wir setzen den Arbeitsstil der Privatwirtschaft um.“

Konkret bedeutet dieser Stil: Erhöhen des Drucks auf die Belegschaft, Entlassungen, Lohndumping, Einsatz von Leiharbeitern, Sparen an Arbeitsschutz und -sicherheit, Verhindern von Gewerkschafts- und Betriebsratsarbeit u.v.m. Und wenn die Leitungsetage des jeweiligen Unternehmens wie Gürkan gute Beziehungen zur Regierungspartei pflegt, braucht man keine unangekündigten Inspektionen und auch keine Sanktionen wegen Nichteinhaltung von Mindeststandards zu befürchten. So überrascht dann die folgende Tabelle auch niemanden:

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Tabelle 2: Tödliche Arbeitsunfälle pro abgebaute Mio. Tonnen Steinkohle
Jahr Staatsbetriebe Privatunternehmen
2000 3,98 59,25
2001 2,12 94,82
2002 3,56 80,38
2003 3,98 229,44
2004 2,66 76,78
2005 6,01 3,91
2006 1,97 3,77
2007 2,98 18,36
2008 4,41 11,51
Quelle: Steinkohlebericht der Türkischen Ingenieur- und Architektenkammer, 2008

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Diese Zahlen zeigen, auf wessen Kosten der vielfach gelobte wirtschaftliche Erfolg der AKP-Regierung geht. Ihre neoliberale Wirtschaftspolitik mit Privatisierungen, Flexibilisierung, Deregulierung, Outsourcing legte den Grundstein für die hohen Wirtschaftwachstumszahlen der letzten Jahre. Ermöglicht wurde diese Entwicklung nicht nur durch die Ausweitung der Ausbeutung, sondern auch durch den rigorosen Abbau von Arbeiter- und Gewerkschaftsrechten unter der AKP-Regierung.

Proteste angekündigt

Türkische Medien berichten, dass seit gestern in Soma, aber auch in zahlreichen Insdustriestädten des Landes Sicherheitsmaßnahmen getroffen wurden, um etwaige Protestdemonstrationen zu verhindern. Trotzdem kam es in Kayseri, Mugla, Bursa und vielen anderen Städten zu spontanen Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen. Ein Streik der Studierenden an der Universität ODTÜ in Ankara, die mit einem Protestmarsch zum Energieministerium ziehen wollten, wurde von Polizei brutal aufgelöst.

Die Gewerkschaftskonföderationen DISK und KESK sowie Berufsverbände von Ingenieuren und Ärzten haben für den morgigen Donnerstag zu einem landesweiten Streik- und Aktionstag aufgerufen. Die Partei der Arbeit (EMEP), Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und andere Organisationen haben ebenfalls zu Protesten aufgerufen.

Auch in Deutschland haben verschiedene Organisationen, darunter die Föderation Demokratischer Arbeitervereine e.V. (DIDF) für heute und die nächsten Tage zu Protest- und Solidaritätsaktionen aufgerufen.