merkel erdoganDer deutsche Soziologe Ulrich Beck verglich 2012 in einem Artikel im Spiegel die deutsche Bundeskanzlerin Merkel mit Niccolò Machiavelli, einem florentinischen Staatstheoretiker und Philosophen aus der Renaissance. Beck, der 2015 verstarb, nannte seine Kreuzung aus Merkel und Machiavelli „Merkiavelli“. Beck zog seine Schlussfolgerung aus der Tatsache, dass Merkel den Rat, den Machiavelli in seinem Werk „Der Fürst“ an die Herrscher richtet, sich zu eigen gemacht hat: Sinngemäß erklärt Machiavelli: Halte nur die gestrigen Versprechen, welche dir heute einen Vorteil bringen.

Merkels Türkeibesuch, knapp zwei Wochen vor den Neuwahlen in der Türkei, unterstrich noch einmal Becks Vergleich und entfachte dadurch eine Debatte. Diskutiert wurde hauptsächlich über die Vereinbarung zwischen der Kanzlerin und dem Staatspräsidenten Erdogan und selbsternannten vorübergehenden Ministerpräsidenten Davutoglu, welche beinhaltet, Geflüchtete aus Syrien an der Einreise nach Deutschland zu hindern.

Als das Elend und die unmenschlichen Bedingungen der Geflüchteten in den westlichen Medien thematisiert wurde und das europäische Gewissen Löcher bekam, hatte Merkel mit einer theatralischen Geste der offenen Hände verkündet, dass Deutschlands Türen offen seien. In entgegengesetzter Richtung aber ging es bei dem Türkei-Besuch von Merkel um Maßnahmen, syrische Geflüchtete an der Einreise nach Europa und Deutschland zu hindern. Die letzte Szene des Moralschauspiels der Kanzlerin ereignete sich, als sie sich auf einen der goldüberzogenen Throne im „Palast“ des „designierten“ Sultanen Erdogan setzte. Das Italien der Renaissance mitsamt seinen Commedia dell’arte Zuschauern, hätte diese improvisierte Inszenierung wirklich sehr wert geschätzt. Schaut man in die Kommentare in sozialen Medien, kamen vielen Zuschauern während der letzten Szene die Tränen. Auch wenn die deutsche Rechte nun versucht, mit Wagner ein bisschen Drama in die Komödie zu bringen, ändert sich nichts an der Komödie!

Die deutsche Rechte vertritt keine moralisch und ethisch korrekte Außenpolitik, sondern eine reine Interessenpolitik, so wie es üblich für Rechte ist. Dieses Verständnis wird in der Politik auch Realpolitik genannt. Die Realpolitik spaltet Ethik und die Politik und nimmt sie von einander getrennt wahr, was schlichtweg bedeutet, dass jedes Mal, wenn Moral und Gewinn im Widerspruch zu einander stehen, der Gewinn höher gewertet wird. Daraus erschließt sich, warum Beck auf Machiavelli zurückgreift. Aber anders als Beck können wir Machiavelli auch aus einer anderen Perspektive betrachten, indem wir uns seine Geschichten an das Volk ansehen. Nach Gramsci, einem italienischen kommunistischen Theoretiker, war Machiavelli ein Denker, dessen Fürsten durch ihre ethischen, moralischen und religiösen Handlungen dem Volk zeigten, wie sie eigentlich ihre eigenen Interessen verfolgten. Der republikanische Machiavelli gab dem Volk Hinweise, was die Fürsten eigentlich für ihre eigenen Interessen taten, während er seinen Fürsten die Ratschläge mit auf den Weg gab. Aus diesem Grund wird Machiavelli von Gramsci als „demokratischer Philosoph“ bezeichnet. Merkels Realpolitik, die sich an die Fürsten-Ratschläge hält, verrät wohl oder übel die Interessen, auf denen sich ihre Politik stützt. Es besteht kein Zweifel, dass sich die Politik rein an Interessen orientiert. Allerdings muss man sich hierbei fragen, um wessen Interessen es sich handelt, von wem sie festgelegt werden, wem sie dienen und wem sie schaden.

Sollte die Europäische Union, geblendet von Deutschlands Führungsposition, ihre universalen Werte nicht umsetzen und diese zudem an alltägliche Interessen opfern, dann ist es zu hinterfragen, inwiefern diese Universalität etwas nützt. Wenn wir weiter Machiavelli folgen, sind die „europäischen Werte“ nichts anderes als eine legalisierte und moralisierte Propaganda, welche die souveränen politischen Interessen der Herrschenden verdecken. Schlussfolgernd gibt es keinen Gewinn und keine Politik ohne Moral und Ethik. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es hierbei nicht einen universalen Begriff der Menschlichkeit und damit verbunden eine Justiz und Politik geben kann! Es bedeutet vermeintlich, dass diese Justiz und Politik lediglich nicht vom souveränen Deutschland und der EU repräsentiert werden kann. Die Einhaltung von universalen Werten wie Gleichberechtigung und Freiheit kann nur in einer Politik gewährleistet werden, welche politische Interessen nicht national oder regional definiert, sondern zwischen Menschen keine politischen Grenzen zieht. Sowohl Deutschland, als auch die EU sind weit von diesem Grundsatz entfernt. Allerdings wird dieser Zustand auch Merkels Realpolitik schaden. Das wiedervereinigte Deutschland nutzte die EU als Feigenblatt, um seine potenzierte Macht und Stärke zu verdecken. Die fortwährend aggressiver werdende deutsche Außenpolitik hatte es sich schon immer zum Grundprinzip gemacht, europäische Führungspositionen einzunehmen.

Beispielsweise konnte Deutschland nach der Wirtschaftskrise 2008, vor allem in Bezug auf die Griechenlandkrise, ohne selber direkt einzugreifen, seine Macht demonstrieren und seine wirtschaftlichen Ziele durch Floskeln über „europäische Werte“ und Vasallen-Akteure erreichen, die selber Teil der Krise waren.

Heute sieht es anders aus: Merkel kann weder in der Ukraine- noch bei der Flüchtlingskrise nicht mehr „nichts tun“, um deutsche Interessen durchzusetzen. Sie ist gezwungen, zu handeln und bei allem, was sie tut, verrät sie somit ihre eigenen Interessen. Dadurch verlieren die Floskeln über die universalen Werte ihre Glaubwürdigkeit. Anders gesagt: In der deutschen Außenpolitik geht der Europa-Lack schnell ab!

M. Sinan Birdal
* übersetzt von der türkischen Tageszeitung Evrensel
von Dirim Su Derventli