von Mirkan Dogan

Seit einigen Wochen wird die Diskussion um Polizeigewalt mit der verkehrten Opferrolle geführt. Demnach seien die Polizisten die Opfer. Angeleitet wird die Diskussion von Innenministern, der Polizeibehörde selber, dem Bundeskriminalamt und der bürgerlichen Presse.

Dabei wird über den wenigen Respekt der Jugend gegenüber der Polizei gesprochen und darüber, dass eine komplette Generation verloren gehen würde. Diese Entwicklung ist nicht zufällig, die Hintergründe werden aber wenig betrachtet. Die Debatte der letzten Wochen war über Stuttgart, Göttingen und dem hessischen Dietzenbach. In diesen Städten kam es zu massiven Ausschreitungen mit der Polizei, die wir uns genauer anschauen sollten.

Soziale Brennpunkte

Am 29.05 haben Jugendliche in Dietzenbach Brände gelegt und Polizei und Rettungskräfte mit Steinen attackiert. Die Vorfälle ereigneten sich im so genannten Spessartviertel. Dieser ist der Öffentlichkeit für Unruhen, Kriminalität und Drogen bekannt. Doch für die Stadt Dietzenbach und das Land Hessen galt dieses Viertel bis vor den Unruhen im Mai als „beruhigt“. Dies sei das Ergebnis der harten Jugendarbeit gewesen, mit der sich die Stadt brüstet. Doch diese wurde in den letzten Jahren stark heruntergefahren und war während der Corona-Pandemie ausgestorben. Die ökonomische Situation der Anwohner hat sich jedoch nicht verbessert und die Probleme der Jugendlichen haben sich nicht in Luft aufgelöst. Die Jugendlichen finden nur schwer Ausbildungsplätze, sind Rassismus ausgesetzt und müssen sich durch das ungerechte System Schule quälen. Viele junge Menschen waren während der Corona Pandemie Zuhause eingesperrt und mussten Online einem Unterricht folgen, der schon in der Präsenzlehre schwer genug war. Dass die Unruhen abzusehen waren und es kein Zufall war, dass sie ausgerechnet in die Pandemie Zeit gefallen sind, sagt auch der Fachbereichsleiter Soziale Dienste der Stadt Dietzenbach, Peter Amrein. In Göttingen ereignete sich ähnliches. Dort wurde während der Corona Pandemie ein Hochauskomplex in Quarantäne gestellt. Auch in Göttingen wohnen die Menschen auf engstem Raum, die Ansteckungsgefahr für gesunde Anwohner war enorm. Neben der prekären Wohnsituation kam dann in der Quarantäne noch hinzu, dass es keine ordentliche Versorgung mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln und Wasser gab. Anwohner berichten der Presse von abgelaufenen Lebensmitteln, die ihnen verteilt wurden. Hier kam es am 21.06 zu Unruhen. Die Einsatzkräfte, die das Hochhaus umzäunt und bewacht haben,  wurden mit Steinen und Haushaltsgegenständen beworfen. In Stuttgart ereigneten sich ähnliche Szenen, bei denen im Nachhinein ein rassistischer Polizeifunk aufgetaucht ist. Hier stellt sich auch die Frage, wie man diese Jugendlichen behandelt hat.

„Verhältnissse schützen“

Die Polizei ist eine Behörde, die es als Aufgabe hat die ökonomischen Verhältnisse zu schützen und Gefahren abzuwehren. Es ist das Verhältnis von 45 Superreichen, die mehr besitzen, als die ärmste Hälfte der Bevölkerung. Es ist die Aufgabe der Polizei genau diese Verhältnisse zu schützen. Rassismus dient auch hier zur Spaltung der Menschen. Die „nicht-deutsch“ aussehenden Jugendlichen werden von der Polizei häufiger aus der Masse herausgezogen und kontrolliert, diese Jugendlichen müssen befürchten, schlechter behandelt zu werden, als ihre deutschen Kollegen. Dabei verbindet sie eigentlich mehr, als sie trennt. Sie haben die selben Probleme mit denen sie sich beschäftigen müssen.

Wenn wir uns nun die Ausschreitungen in den Orten anschauen, dann können wir sehen, dass immer soziale Probleme im Vordergrund standen. Die Gewalt mag an sich keine politische Motivation haben, jedoch sind diese Ausschreitungen politisch. Solche Ausschreitungen müssen immer im Kontext der Wechselwirkung von Gewalt betrachtet werden. Armut, Chancenungleichheit, Sozialabbau und Rassismus, auch innerhalb der Behörden,  sind auch eine Form der Gewalt, die geschaffen wird.  Diese Gewalt ist die Gewalt der Herrschenden. Der Aufschrei der bürgerlichen Gesellschaft findet aber erst statt, wenn die Antwort auf die Gewalt von oben, Gewalt von unten ist. Die brutale Gewalt von oben findet keine Beachtung.

Manipulation von Statistiken

Es findet eine Diskursverschiebung statt. Statt über die Ursachen der Gewalt zu reden und die Arbeit und Rolle der Polizeibehörde zu hinterfragen, wird über Gewalt gegen Polizeibeamte diskutiert. Diese Debatte wird geschickt geführt, auch mit falschen Zahlen. Im Mai diesen Jahres wurde vom Bundeskriminalamt, als auch vom Innenministerium groß heraus posaunt, dass die Gewalt gegen Polizeibeamte um 8,6% gestiegen sei. Dies sei eine noch nie dagewesene Dimension der Gewalt gegenüber Polizeibeamte. Die Presse übernimmt die Zahlen, ohne zu überprüfen woher eigentlich die Zahl stammt und ob sie korrekt ist. Auch der deutsche Journalistenverband kritisiert das Verhalten der Presse und argumentiert, dass das Bundeskriminalamt und das Innenministerium hier nicht als unabhänigige Quelle zu verstehen ist, sondern als parteiisch für die Polizeibehörde.

Denn der Anstieg von 8,6% ist grober Unfug. Wer sich die original Berichte des Bundeskriminalamt anschaut für das Jahr 2019 wird feststellen, dass die erst beste Zahl genommen wurde. Die 8,6 % bezieht sich auf die Kategorie „Widerstand und tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte“, das ist eine Kategorie von 11, die in der Statistik herangezogen wird. Zu der Gewaltstatistik zählen auch Mord, Raub, Körperverletzung etc.. Diese sind nicht enthalten in der Kategorie „Widerstand und tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte“. Diese Kategorie greift zum Beispiel, wenn ein Demonstrant sich gegen die Festnahme wehrt und sich an einer Laterne festhält. Wenn man alle Kategorien mit´einberechnet, die das BKA zu Gewalt gegen Vollstreckungsbeamte hinzuzählt so ergibt sich ein Anstieg von 1,3%. Also nicht wirklich hilfreich für das Bundeskriminalamt und dem Innenministerium. Wenn man nur die Kategorien miteinbezieht, die auch für einen normalen Bürger gelten, so ergibt sich sogar ein Rückgang von 31,2%! Die falschen Zahlen, mit denen die Öffentlichkeit bewusst getäuscht wurde, sollen als Notwendigkeit für neue, repressive Polizeigesetze herangezogen werden.

Die Corona- Pandemie enthüllt nochmal deutlicher die Ungerechtigkeiten dieser Gesellschaft und verstärkt bestehende Widersprüche. Damit einher verstärkt sich auch die Wut, die gegen diese ungerechte Gesellschaft besteht.