Von Zara Gül

In unseren Diskussionen bei der Jugendarbeit kommt immer wieder die Kritik auf, dass politische Strategien und Entscheidungen im kapitalistischen Wirtschaftssystem, in erster Linie profitorientiert getroffen werden. Diese Ausrichtung reicht bis in Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens, die eigentlich dringend in öffentliche Hand gehören und an erster Stelle die Bedürfnisse und Interessen der Menschen im Blick haben müssten, wie die Bereiche Wohnen und Essen, Gesundheit und Bildung.

In Kuba ist die Gesundheitsversorgung in staatlicher Hand. Jahrzehntelange Wirtschaftsblockaden und politische Anfeindungen haben den Staat jedoch isoliert und die Möglichkeiten stark minimiert. Trotz Minimalausstattung erzielt Kuba jedoch erstaunliche Ergebnisse in der Gesundheitsversorgung, die wir 2015 in einem Artikel in der Jungen Stimme zusammengestellt hatten.

Jetzt, wo ein einziger Virus die Gesundheitsversorgung sogar eines der stärksten Ökonomien wie Deutschlands überfordert und kubanische Ärzte Italien zu Hilfe kommen, wollen wir uns das kubanische System noch einmal vor Augen führen.

In der Zeit vor der Revolution auf Kuba waren in der ambulanten (wandernden/fahrenden) und der stationären (an einem festen Standort) medizinischen Betreuung private und vom Prinzip der Gegenseitigkeit getragene Gesundheitsleistungen vorherrschend. Diese Modalität verhinderte Menschen mit niedrigem Einkommen den Zugang zur Medizin. Ihre einzige Alternative lag in den Häusern der Ersten Hilfe, die vor allem Notfälle behandelten. Gesundheitseinrichtungen und medizinisches Personal befanden sich allerdings vor allem in der Hauptstadt, wo 65 % der Ärzte und 62 % der Krankenhausbetten konzentriert waren. Auf dem Lande gab es praktisch keine medizinische Betreuung. Nur ein einziges Landkrankenhaus war vorhanden.

Mit dem revolutionären Sieg begann die Schaffung des Nationalen Gesundheitswesens.

Wenn man mit Krankheit kein Geld machen kann, hat der Auftraggeber größtmögliches Interesse daran, dass die Menschen gar nicht erst krank werden. Die revolutionärste Idee des kubanischen Systems ist seitdem also ironischerweise die Umorientierung auf die Prävention, sprich der Gesundhaltung der Menschen und ihr Lebensumfeld. Dafür leben die Ärzte dort, wo sie arbeiten. Das Team aus Arzt/Ärztin und Pflegekräften ist Teil der Gemeinde und über Jahrzehnte hinweg für dieselbe kleine Gruppe von Menschen verantwortlich. Dadurch kennen sie ihre Patienten gut. Sie kennen Lebens- und Arbeitsweisen und können so gegebenenfalls präventiv handeln oder individuelle Behandlungen vorschlagen. Außerdem ist durch die Verschmelzung von Praxis und Eigenheim eine schnellstmögliche Behandlung gewährleistet. Um diese volksnahe Betreuung zu gewährleisten, wurden Ärzte in allen Teilen des Landes, insbesondere in schwer erreichbaren, benachteiligten Gegenden ausgebildet. 1959 hatte Kuba noch 6.290 Ärzte – heute sind es 69.713. Damit fallen auf 1000 Menschen auf Kuba knapp doppelt so viele Ärzte wie in Deutschland. Allein 20.000 von ihnen sind Familien- oder Nachbarschaftsärzte, deren Arbeitsschwerpunkt in der Vorbeugung liegt. So sollen Kosten gesenkt werden, und das funktioniert trotz aller Defizite recht gut. Über 99,1 % der kubanischen Bevölkerung werden so von Hausärzten und Schwestern kostenlos betreut.

Jeder Hausarzt hält an seinem Haus/ seiner Praxis einen Garten mit Heilpflanzen, aus denen er/sie Tees, Salben, Tropfen, Öle etc. herstellt und ist dazu angehalten möglichst ganzheitliche, soweit es geht traditionelle Medizin anzuwenden, weil sie in der Kultur gegründet ist, in der sie seit Jahrhunderten besteht. Das kubanische Modell verfolgt den Ansatz, dass Medizin nicht statisch ist, sondern sich an den vorgefundenen Bedingungen der jeweiligen Gemeinschaft orientiert und weiterentwickelt.

Hinter den consultorios (hausärztliche Praxen) stehen policlinicos(Ambulatorium), die die Dienstbereitschaft außerhalb der Sprechstundenzeiten übernehmen und ein Angbeot von Spezialisten anbieten. Aufwendigere Untersuchungen und Behandlungen sowie Notfälle übernehmen die übergeordneten Polikliniken. Policlinicos koordinieren außerdem die Gesundheitsleistungen in der Gemeinde und sorgen für die örtliche Durchführung nationaler Gesundheitsinitiativen. Die Kubaner nennen ihr System medicina general integral (MGI, ganzheitliche allgemeine Medizin).

In den urbanen Zentren gibt es große Krankenhäuser, in denen teils hoch spezialisierte Fachärzte und Chirurgen arbeiten. Die latente Devisenknappheit macht sich in diesem Bereich der Versorgung allerdings besonders bemerkbar. Ohne Improvisation geht in Kubas Krankenhäusern deshalb wenig, und ohne das gute Verhältnis zwischen MedizinerInnen und PatientInnen stünde es wohl um einiges schlechter um das Gesundheitssystem. Diese Erfahrung hat zumindest Jens Wenkel gemacht, Berliner Arzt, der in Kuba ein Tertial studierte und sich die Operationssäle von innen anschauen konnte. Nach seinem Bericht (LN 329) arbeiten die ÄrztInnen hier an der Notstandsgrenze.  Mangel an Nähmaterial, Kanülen, Spritzen und Gummihandschuhen herrscht in vielen Kliniken. Es wird sterilisiert und wiederverwendet, bis mal wieder eine Lieferung eintrifft. Selbst die Seife wird oft von den Patienten gestiftet, welche sich in den Krankenhäusern – zumindest teilweise – selbstversorgen (müssen).

Wenn Geräte und Arbeitsmaterial schwer zu bekommen sind, kommt der Prävention nochmal mehr Bedeutung zu. Auf ihr liegt ebenso das Augenmerk, wie auf ihrer Forschung.  Das Land zählt zu den ersten, in denen Impfstoffe gegen Meningitis B und C sowie Hepatitis B entwickelt wurden.

Die präventionszentrierte  wissenschaftliche  Forschung und Betreuung der Menschen hat Kuba bei der Bekämpfung der alltäglichen Gesundheitsprobleme extrem effizient gemacht. So kommt es, dass für Gesundheit pro Person und Jahr nur 4% dessen ausgegeben wird, was die USA aufwenden und trotzdem dieselbe durchschnittliche Lebenserwartung zeigt (78 Jahre). Und mehr noch. Durch das Vorhandensein von Arztpraxen in allen Wohnvierteln wurde die Kindersterblichkeitsrate unter die der USA gedrückt. Sie ist weniger als halb so hoch wie die der Afroamerikaner in den USA. Die USA  hingegen vergeuden  das  vielleicht  10-  bis  20fache  dessen, was für ein gutes und bezahlbares medizinisches System notwendig ist.  Ca. 30 Prozent gehen durch das verloren, was die privaten Versicherungsgesellschaften   für   sich kassieren.   Der Rest geht an das enorme Ausmaß an überflüssiger Behandlung, Erfindung  von  Krankheiten,  Ansteckungsgefahr  durch  übermäßige  Hospitalisation und krankheitszentrierte Forschung.

Kuba hingegen hält einen unerreichten Rekord in der Bekämpfung chronischer und ansteckender Krankheiten bei deutlich begrenzten Ressourcen. Dazu gehören (mit dem Jahr der Ausrottung): Kinderlähmung (1962), Malaria (1967), Tetanus im Säuglingsalter (1972), Diphterie (1979), das angeborene Röteln-Syndrom (1989), Meningitis (Hirnhautentzündung) nach Mumps (1989), Masern (1993), Röteln (1995) und tuberkulöse Meningitis (1997).

Zu der Zeit, als New York City (ungefähr dieselbe Einwohnerzahl wie Kuba) 43000 Fälle von AIDS verzeichnete, hatte Kuba nur ganze 200 AIDS-Patienten.  

Ein weiterer sehr erstaunlicher Aspekt an der kubanischen Medizin ist, dass Kuba, obwohl selbst ein armes Land, über 20.000 Studenten aus anderen Ländern beherbergt, die an seiner Lateinamerikanischen Hochschule für Medizin in Havanna studieren (kostenlos, inklusive Wohnen, Verpflegung, Lernmaterialien), außerdem schickt es, zusätzlich zur Gesundheitsvorsorge im Land, Einsatzteams in Katastrophengebiete. Weltweit stellt der Karibikstaat mehr medizinisches Personal zur Verfügung als die WHO. Kubanischen Medizinern eilt in vielen Ländern Lateinamerikas zudem der Ruf voraus, auch in die entlegendsten Regionen zu kommen, selbst dorthin, wo der jeweils eigene Staat kaum Präsenz hat. Afrika und Lateinamerika standen immer im Mittelpunkt der kubanischen Hilfe. Seit der Revolution von 1959 sind insgesamt 76.000 Helfer in diese Region geschickt worden. Anfang 2010. Anfang 2010 war Kuba eines der ersten Länder, das Haiti nach dem verheerenden Erdbeben zur Hilfe eilte.

Ehemalige Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Margaret Chan hat das kubanische Gesundheitssystem wegen seiner Nachhaltigkeit und der Kapazität, in Notfallsituationen agieren zu können, als ein Beispiel bezeichnet, dem man nacheifern sollte. Während ihres Auftritts vor dem Plenum der Versammlung der Interparlamentarischen Union (IPU) betonte sie die wichtige Rolle, die kubanische Fachkräfte im Kampf gegen Ebola in Westafrika gespielt hätten.

Die Deputierte Yolanda Ferrer, Chefin der kubanischen Delegation beim IPU-Treffen hob hervor, dass für das Erreichen von wirklich nachhaltigen Gesundheitssystemen der politische Wille der Staaten und ein solidarischer Geist notwendig seien.

Genau dieser Geist, führte sie aus, werde in der Zusammenarbeit Kubas mit zahlreichen Ländern des Südens offenbar, die dem Grundsatz folge, nicht das zu geben, was man übrig behalte, sondern das zu teilen, was man habe.